Paarungszeit: Roman (German Edition)
beim Tanzen. Wäre sie eine Figur in einem Roman von Delphine de Brulée, dann eine, die ihren Hut … Kruzifixnoamoi! Ein Stoß! Vor den Bug! Die Zigarette flog weg, und Therese klammerte sich fest an dem, was in sie hineingerannt war. Ein Schmerzenslaut, ein Fluch, der musikalisch klang, beinahe elegant, ausgestoßen von einer Männerstimme. Etwas drückte kalt in ihr Dekolleté. Ein … Akkordeon?
Sie ließ ihn los. Den Mann, der sie aus aufgerissenen Augen anstarrte. Violetter Lidschatten, bis an die Brauen verwischt, er passte nicht zu dem Grün seiner Augen, verschmierter Lippenstift, etwas zu rosa, geschwungene Lippen hatte er, am Kinn einen Schlitz. Sie hatte Zeit, sich alles genau anzusehen, als hätte ihr der Gott der plötzlichen Schrecken einen unbegrenzten Mußevorrat zugeteilt. Was redete er da, hastig und leise, sie verstand nichts, kein Wort, verstand nur die Rufe, von irgendwo hinter ihnen: »Stehnbleim!«, in vertrautem Bayerisch. Schritte, ein Akkordeon, das ihr in die Hände gedrückt wurde, eine Hand, die ihr den Mund zuhielt. Er schob sie, dieser Mann, samt Akkordeon, in die Toreinfahrt, flüsterte: »Pardon, Madame.« Französisch, er sprach Französisch!
Die wenigen französischen Wörter, die Therese kannte, hatte sie in einem lange vergangenen Frankreichurlaub gelernt, Wörter, die der Situation nicht angemessen waren: »Une bière et une glace, s’il vous plaît, merci, bon jour, je ne comprends pas, où est la toilette, non, je ne regrette rien.« Letzteres stammte nicht aus dem Urlaub, sondern aus einem Lied, und sie hatte vergessen, was es bedeutete, »je t’aime, monoplü« oder so ähnlich, das fiel ihr noch ein, ebenfalls aus einem Lied, in dem mehr gestöhnt als gesungen wurde und zu dem sie in der zehnten Klasse Stehblues getanzt hatte. Mit Fredl Weidinger. Dessen Gegenwart ihr im Moment gar nicht so unlieb gewesen wäre. Der Mann zitterte, vermutlich fror er. Außer seinem Akkordeon trug er nur einen blaukarierten, recht geschmackvollen Slip. Sonst nichts. Schritte, Rufe, jemand hastete an der Toreinfahrt vorbei, sie hörte das Klackern von Stöckelschuhen, sah wehende Dirndlschürzen. Sollte sie versuchen zu schreien? Aber schon ließ er sie los, der fremde Mann, riss sein Akkordeon an sich, stürmte davon, in die andere Richtung, überquerte die Straße – nackert! – zwischen den hupenden Autos hindurch und verschwand im Gedränge zwischen den Ständen.
4.
H auteng schmiegt sich das Kleid an meinen Körper, schweift erst kurz unter dem Knie fischschwanzgleich aus in einen Rock, der sich um meine Knöchel bauscht. Wir treten hinaus auf den Balkon des Pavillon Royale. Steil ragt die Silhouette des Eiffelturms ins Dunkel, und sogar der Halbmond sieht französisch aus, wie ein frisches Croissant.
»Mon amour, du ahnst nicht, wie sehr ich dich begehre«, flüstert er. »Oui, mon chéri«, hauche ich atemlos, und er bedeckt mein Gesicht mit Küssen, dann meine bloßen Schultern, seine Hände, tastend, finden den Reißverschluss, und mit einem Ruck zieht er …
Huljo, hullijö, huldidihollaröh! Rrrrums! Hummta Hummta Hummta …
»Mon dieu!« Er lässt mich los, blickt sich um, mit schreckgeweiteten Augen. Auch ich sehe sie, die Männer in Trachtenhemden, Lederhosen und Wadlstrümpfen, singend pflügen sie durch die französische Nacht, Tuba, Gitarre und Akkordeon im Anschlag, gleich wird der Erste anfangen zu schuhplatteln und … Kruzinesen!
Ich riss die Augen auf, tastete nach dem Handy auf meinem Nachttisch, das beinahe barst unter dem Ansturm des Holzhackermarsches, gespielt von der Neuenthaler Feuerwehrkapelle. Wie spät war es? Wo war ich? Wer war ich? Warum hatte ich diesen Klingelton immer noch nicht geändert? Benommen nahm ich den Anruf an.
»Susn?« Die Stimme meiner Mutter. Auch das noch. Als wäre eine bayerische Trachtenkapelle mitten in einem französischen erotischen Traum nicht schlimm genug.
»Hab ich dich geweckt?«
»Nein, nein, gar nicht, äh … ich meine, überhaupt nicht.«
Der Roman von Delphine de Brulée, über dem ich gestern Abend eingeschlafen war, lag noch aufgeschlagen auf dem Kopfkissen. Timos Bett war leer.
»Gut. Dann kannst du ja gschwind rüberkommen.«
Sie war hörbar bemüht, ihren bayerischen Akzent zu zügeln, ein Zeichen, dass sie im Amtsmodus war. Wie meist in letzter Zeit. Was den Umgang mit ihr nicht unbedingt leichter machte.
»Was ist denn?« Ich warf einen schnellen Blick auf Timos Wecker. Schon halb neun. Kein Wunder.
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