Pain - Bitter sollst du buessen
Montoya. Bentz überflog rasch die Notizen über Annie Seger, dann las er den Bericht ein zweites Mal. Montoya hatte Recht. Annie Segers Umfeld war nicht so gewesen, wie er es erwartet hatte. Ihre Eltern Estelle und Oswald Seger hatten sich scheiden lassen, als Annie vier und ihr Bruder, Kent, sechs Jahre alt waren. Estelle hatte, praktisch noch bevor die Tinte auf der Scheidungsurkunde trocken war, ein zweites Mal geheiratet, Jason Faraday, einen bekannten Arzt in Houston. Als ihr leiblicher Vater, Oswald, ›Wally‹, in den Nordwesten, irgendwo in die Nähe von Seattle zog, war er aus dem Leben seiner Kinder so gut wie verschwunden. Laut Bericht hatte Wally selten die Unterhaltszahlungen für seine Kinder geleistet und nur dann etwas ausgespuckt, wenn Estelle ihm ihre Anwälte auf den Hals gehetzt hatte.
Also doch nicht die gutbürgerliche Durchschnittsfamilie. Bentz nahm einen Schluck Kaffee und rümpfte die Nase angesichts des verbrannten, bitteren Geschmacks.
Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, legte einen Absatz auf die Schreibtischecke und blätterte weiter. Montoya hatte gründlich recherchiert, hatte sogar Informationen über Annies Highschoolzeit gesammelt. Falls man ihren Zeugnissen und dem Schuljahrbuch glauben konnte, war Annie Seger eine exzellente Schülerin, ein beliebtes Mädchen, Cheerleader und Mitglied des Debattierclubs gewesen. Laut einer Akte, die die Polizei in Houston nach Vernehmungen von Familie und Freunden zusammengestellt hatte, war Annie schon mit mehreren Jungen gegangen, bevor sie sich mit Ryan Zimmerman zusammengetan hatte. Der war Kapitän des Lacrosse-Teams gewesen und dann auf die buchstäblich schiefe Bahn geraten. Ein großartiger Kandidat als Vater für Annies Kind. Stirnrunzelnd las Bentz weiter.
Plötzlich war das junge Mädchen schwanger gewesen. In augenscheinlicher Verzweiflung hatte sie ein paar Mal Dr. Sam angerufen und bald darauf ihrem Leben in ihrem plüschigen Jugendzimmer ein Ende gesetzt. Das alles war vor mehr als neun Jahren geschehen. Bentz betrachtete die Bilder von Annie – eins mitten im Sprung in ihrer Cheerleader-Uniform, Pompons in den Händen, ein anderes von einem Urlaub mit der Familie, sie, ihre Mutter, ihr Stiefvater und ihr Bruder in Shorts und T-Shirts auf dem Kamm eines bewaldeten Hügels, und, natürlich, Fotos vom Tatort, Annie über ihrem Computer zusammengebrochen, mit aufgeschlitzten Pulsadern. Blut rann über ihre bloßen Arme in die Tastatur. Ein tragischer Anblick in krassem Gegensatz zu dem Rest ihres Zimmers – das ordentlich gemachte Bett, übersät mit Stofftieren, der dicke weiße Teppich, der Bücherschrank mit der Stereoanlage zwischen Taschenbüchern und CD s.
Bentz ließ den Blick über seinen Schreibtisch wandern und betrachtete die beiden gerahmten Fotos seiner eigenen Tochter. Er konnte sich nicht vorstellen, Kristi zu verlieren. Sie war das einzig Wichtige in seinem Leben, sie war der Grund für ihn, sich von der Flasche fern zu halten und etwas aus sich zu machen.
Mit gefurchter Stirn schlug er die Seite um und stieß auf die unvollständige Liste von Dr. Sams Patienten. Nur fünf Namen waren aufgeführt. Der Name, der ihm ins Auge sprang, war der Jason Faradays, der zufällig Annie Segers Stiefvater gewesen war.
»Scheiße«, brummte Bentz, und seine Gedanken überschlugen sich. Samantha Leeds hatte nie erwähnt, dass Faraday ihr Patient gewesen sei, aber das war nur natürlich. Sie durfte es nicht, sie unterlag der Schweigepflicht. Er trank den Rest seines Kaffees und blätterte die letzte Seite um.
Montoyas Aufzeichnungen besagten, dass sich Estelle und Jason Faraday sechzehn Monate nach Annies Tod hatten scheiden lassen. Estelle lebte noch immer in Houston, im selben Haus, in dem sich ihre Tochter das Leben genommen hatte. Jason jedoch hatte Texas verlassen und war nach Cleveland gezogen, wo er noch einmal geheiratet und zwei Kinder bekommen hatte. Telefonnummern und Adressen waren aufgeführt.
Montoya hatte vortreffliche Arbeit geleistet. Wie versprochen hatte er sämtliche Polizeibeamten in Houston aufgelistet, die mit diesem Fall befasst gewesen waren. Der erste, der am Selbstmordschauplatz eingetroffen war, war Detective Ty Wheeler gewesen.
»Na, da brat mir doch einer einen Storch.«
Bentz las Montoyas abschließenden Eintrag.
Detective Wheelers Einsatz im Selbstmordfall Annie Seger war nicht von langer Dauer gewesen. Nachdem er eingestanden hatte, dass er mit dem Opfer verwandt sei – Annie Seger
Weitere Kostenlose Bücher