Pain - Bitter sollst du buessen
einfach finden.
Ty schaltete das Radio ein, und sie lauschten den letzten Tönen der aufgezeichneten Sendung ›Licht aus‹, Instrumentalversionen beliebter Songs mit Einschlafgarantie, organisiert von Tiny, dem Fachmann, der den Sender in- und auswendig kannte. Er arbeitete schon länger als jeder andere bei WSLJ , schon als er noch zur Highschool gegangen war, hatte er dort einen Teilzeitjob gehabt. Als er sich dann an der Tulane-Universität eingeschrieben hatte, war ihm von Eleanor eine Vollzeitstelle angeboten worden.
War er womöglich der Komplize von John?, fragte sich Sam, während die Reifen des Volvo über das Pflaster glitten und der Motor summte. Vielleicht war Tiny doch nicht so unschuldig, wie er aussah. Und was war mit Melanie? Sie war weiß Gott ehrgeizig und manchmal auch heimlichtuerisch. Und dann gab es noch Melba, überqualifiziert und unterbezahlt … Oder steckte irgendwer dahinter, der mit Trish LaBelle von WNAB im Bunde war? Es galt nicht als Geheimnis, dass Trish auf Sams Job scharf war …
Hör auf, Sam, das führt zu nichts,
dachte sie. Als eine Instrumentalversion von »Bridge Over Troubled Water« erklang, nahm Sam verschwommen zur Kenntnis, dass sie die Ortsgrenze von Cambrai erreicht hatten. Es tat gut, bei Ty zu sein, sich zu entspannen, jemandem vertrauen zu können. Sie öffnete die Augen einen kleinen Spaltbreit, gerade genug, um sein kräftiges Profil zu erkennen, die scharfen Wangenknochen, die düstere Miene, wann immer sie unter Straßenlaternen hindurchfuhren oder die Scheinwerfer eines entgegenkommenden Fahrzeugs das Wageninnere ausleuchteten.
Es war eine merkwürdige Vorstellung, dass sie ihn erst seit kurzem kannte, und sie lächelte still in sich hinein bei dem Gedanken daran, wie sehr sich Mrs. Killingsworth über das Gelingen ihres Kuppelversuchs freuen würde. Ty drosselte das Tempo und nahm eine Kurve, als sie auf die Straße am See abbogen.
Kurz darauf schlug sie die Augen auf. Gerade fuhren sie an ihrem Haus vorüber, die Fenster dunkel, kein Lebenszeichen im Inneren. Beinahe hätte sie es sich anders überlegt und ihn eingeladen, bei ihr und Charon und den Hornissen zu übernachten, doch dann zügelte sie sich. Bald schon würde der Morgen heraufdämmern, doch bis dahin würde sie bei Ty bleiben. So erschöpft sie auch war, verspürte sie doch eine leise prickelnde Vorfreude darauf, mit ihm allein zu sein. Tagsüber hatte sie oft an ihre Liebesnacht denken müssen, viel zu oft. Es erschien ihr vollkommen natürlich und passend, mit Ty zusammen zu sein. Und trotzdem erinnerte sie sich daran, dass sie auch in der Vergangenheit schon falsche Entscheidungen getroffen, ein schlechtes Auge gehabt hatte, was Männer betraf. Und was wusste sie schon von ihm, abgesehen davon, dass er ungefähr zu der Zeit in ihrem Leben aufgetaucht war, als jemand angefangen hatte, sie zu terrorisieren? Ihre Gefühle für ihn gingen jedenfalls schon längst weit über das vernünftige Maß hinaus.
Sie durfte, wollte sich nicht noch einmal verlieben. Weder in Ty noch in sonst jemanden. Sie hatte ihre Lektion gelernt; das redete sie sich jedenfalls ein. Ty stellte nun den Wagen ab und geleitete sie in sein Haus – ein kleines Landhaus mit wenig Mobiliar. Sam erblickte lediglich Schreibtisch, Schrankwand und Fernseher. Sasquatch reckte sich und kam ihnen schwanzwedelnd entgegen, und Ty ließ den Schäferhund zur Hintertür hinaus.
»Hungrig?«, fragte Ty an Sam gewandt.
»Todmüde trifft es eher.«
Er pfiff nach dem Hund, dann führte er Sam eine kurze Treppe hinauf in die obere Etage, wo ein Doppelbett stand, direkt unter den Fenstern mit Ausblick auf den Garten hinter dem Haus. Das Mondlicht schimmerte auf dem See, und eine warme Brise brachte den Geruch des Wassers mit sich.
»Weißt du, ich halte es eigentlich nicht für eine gute Idee, dass ich hier bei dir schlafe«, sagte Sam.
»Wieso nicht?« Er hatte bereits seine Schuhe ausgezogen.
»Vielleicht tu ich etwas, das ich später bereue.«
Mit einem frechen Grinsen hob er ihr Kinn an und sah ihr in die Augen. »Das kann ich nur hoffen.«
»Du bist unmöglich.«
»Ich tu mein Bestes«, gab er zu, zog sie in seine Arme und küsste sie, bis sie an nichts anderes mehr denken konnte als daran, mit ihm zu schlafen.
Tu’s nicht noch einmal, Sam! Gebrauch deinen Verstand. Woher willst du wissen, ob du ihm vertrauen kannst?
Sie wusste es natürlich nicht, das war ihr klar, aber sie konnte sich nicht gegen das Bedürfnis wehren,
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