Pain - Bitter sollst du buessen
hat, und er und seine neue Frau brechen die Zelte ab und ziehen nach Cleveland. Einfach so.« Er schnippte mit den Fingern. »Aber stell dir vor: Er ist in den letzten paar Monaten öfter mal in New Orleans gewesen. Die Schwester seiner neuen Frau wohnt in Mandeville, auf der anderen Seite des Sees, und er hat hier ein paar Konferenzen besucht.«
»Moment mal. Das ergibt doch keinen Sinn. Du meinst, ein Mörder kommt ungeschoren davon, und jetzt, neun Jahre später, ruft er mich an und will alles wieder ans Licht bringen? Warum? Es gibt keine Verjährungsfrist. Falls John, wer immer er sein mag, sie umgebracht hat, warum sollte er dann mich beschuldigen, warum gibt er dann nicht Ruhe und lässt alle in dem Glauben, dass Annie Selbstmord begangen hat? Wenn das, was du sagst, zutrifft, hat er sich ja größte Mühe gegeben, Annies Tod wie einen Selbstmord aussehen zu lassen. Warum sollte er jetzt alles wieder aufrühren?«
Ty blickte zu ihr auf. »Wir haben es allerdings nicht mit einem geistig gesunden Menschen zu tun, oder? Der Kerl, der dich anruft, hat alle möglichen Wahnvorstellungen von Sünde und Reue und Vergeltung. Ich vermute, dass irgendetwas sein Bedürfnis, dich anzurufen und die Tragödie wieder ins Rampenlicht zu rücken, ausgelöst hat. Vielleicht hat er deine Sendung gehört, oder vielleicht ist in seinem Privatleben etwas vorgefallen. Wir wissen bereits, dass er diesen religiösen Fimmel hat. Er ist übergeschnappt, Samantha.«
Sie war noch immer nicht überzeugt, ließ sich jedoch auf seine Theorie ein. »Okay, gehen wir einmal davon aus, dass der Mörder Jason Faraday ist.«
»Das wäre eine Möglichkeit. Er hat sich kurz nach dem Vorfall von Estelle getrennt und ihr nach der Scheidung praktisch alles überlassen. Dann hat er seine Zelte abgebrochen und sich sozusagen aus dem Staub gemacht. Er hat ein neues Leben angefangen, ohne sich völlig von Houston lösen zu können.«
»Wer kommt sonst noch infrage?« Sie zupfte die vertrockneten Wedel eines Farns ab.
»Annies Bruder. Kent und sie standen sich ziemlich nahe. Sie hatten gemeinsam die Scheidung ihrer Eltern durchlebt und mussten sich mit dem zweiten Mann ihrer Mutter arrangieren. Kent war ziemlich fertig nach Annies Tod. Er erschien nicht bei der Arbeit, nicht in der Schule und litt an einer Art Depression. Und währenddessen ging die zweite Ehe seiner Mutter in die Brüche. Er war nun der Mann im Haus, und zu dieser Zeit wurde er in eine private psychiatrische Klinik in Südkalifornien eingeliefert, Our Lady of Mercy.«
»Katholisch? Für Reiche, nicht wahr?«, fragte sie, und ihr fiel auf, wie sich Tys dunkles Haar im Nacken kräuselte.
»Für junge Leute mit Problemen.«
»Aber die Klinik war katholisch geführt.«
»Estelle ist überzeugte Katholikin, daher wurden die Kinder entsprechend erzogen.« Er warf ihr einen Seitenblick zu. »Das ist keine Sünde, oder?«
»Nein. Rate mal, wie ich erzogen bin«, forderte sie ihn auf, marschierte in die Küche und warf die trockenen Blätter in den Abfalleimer.
»Ich brauche nicht zu raten. Das steht in meinen Notizen.«
»Ach ja, richtig. Weißt du, Ty, ich sollte eigentlich sauer darüber sein. Das nennt man Verletzung der Privatsphäre.« Sie wischte sich die Hände ab, ging zurück ins Wohnzimmer und nahm ihren Platz hinter dem Sofa wieder ein.
Sein Lächeln war in keiner Weise betreten. »Ich bin eben ein Scheißkerl. Was soll ich noch sagen?«
»Füge unerträglich und starrsinnig hinzu.«
»Also der Mann, den du brauchst.«
»Träum weiter.«
»Das tu ich«, entgegnete er und schoss einen heißen Blick auf sie ab, der ihr die Kehle zuschnürte. Die Dinge entwickelten sich schnell, wahrscheinlich viel zu schnell. Ihr Leben war völlig aus den Fugen geraten, sie brauchte Raum zum Atmen, zum Denken, um herauszufinden, warum irgendein Verrückter sie quälte. Es war nicht der richtige Zeitpunkt, sich ernsthaft mit einem Mann einzulassen, und trotzdem … trotzdem …
Sie räusperte sich und zupfte einen Fussel von den Sofapolstern. »Du wolltest mir etwas über Annies Familienmitglieder erzählen«, erinnerte sie ihn.
»Und mir ist ein Gedanke gekommen.« Er drehte den Kopf, um ihr ins Gesicht schauen zu können, und sagte: »Weißt du, du bist doch eine prominente Psychologin, und in dieser Eigenschaft könntest du vielleicht in der Klinik Erkundigungen über Kent einholen, etwas über seine Krankheit in Erfahrung bringen.«
»Ich bin Psychologin, keine Psychiaterin … das
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