Pain - Bitter sollst du buessen
ist ein Riesenunterschied in der Welt der Medizin. Dort legen sie großen Wert auf ihre klinische Ausbildung und ihren Titel.«
»Es ist eine psychiatrische Klinik; man wird dich dort bestimmt ernst nehmen.«
»Ich glaube, ich bin bei Medizinern höchstens als Unterhaltungspsychologin bekannt. Das klingt nicht so, als ob man mich ernst nehmen würde.«
»Hast du nicht in der Gegend gelebt?«
»Doch«, gab sie zu. »Eine meiner Kommilitoninnen vom College praktiziert dort.«
»Dann hast du doch bereits eine Ansprechpartnerin.«
»Patientenberichte sind vertraulich.«
»Ich stifte dich ja nicht zu einer kriminellen Handlung an«, beschwichtigte er, doch etwas schwang in seiner Stimme mit, das seine Worte Lügen strafte. »Du sollst nur mal probieren, etwas über Kent herauszukriegen.«
»Damit du es in deinem Buch verwerten kannst. Ich glaube, das ist wirklich kriminell. Darüber hinaus auch moralisch verwerflich.«
»Egal, was du herausfindest, ich werde es nicht verwenden.«
»Ja, sicher. Aber gut, ich rufe meine Bekannte an, doch mehr auch nicht. Und alles bleibt strengstens vertraulich.«
»Unbedingt.«
»Und jetzt erzähl mir mehr über Annies Familie. Der Bruder, Kent, wo lebt er … Nein, warte, er lebt hier, nicht wahr?«, vermutete sie. »Sonst würde er dich nicht so interessieren. Er ist in New Orleans.«
»Ganz in der Nähe zumindest. In Baton Rouge. Er hat sich endlich wieder gefangen und seinen Abschluss am All-Saints-College gemacht. Er hat das Studium generale absolviert und nebenher am College gearbeitet, obwohl seine Mutter ihn während seines gesamten Studiums unterstützt hat.«
»Ist er verheiratet?«
»Kent doch nicht! Er wechselt die Freundinnen wie seine Hemden. Mit der letzten hat er gegen Ende Mai Schluss gemacht, aber wahrscheinlich hat er schon wieder eine neue. Offenbar ist er nie ohne Anhang.«
»Hat er einen Job?«
»Ja, aber nur in Teilzeit, vermittelt von einer Zeitarbeitsfirma. Ich glaube, Estelle bezahlt noch immer den Großteil seiner Rechnungen.«
»Du hast deine Hausaufgaben gemacht«, sagte sie leicht gereizt.
Er lachte schnaubend. »Wenn man erwachsen ist, nennt man das Recherche.«
Konnte es sein, dass Ty Recht hatte? Jahrelang war Samantha überzeugt gewesen, Annie Seger habe Selbstmord begangen, doch durch Tys Theorie geriet nun alles ins Wanken. Und das Grauen der Vergangenheit, das heimliche Gefühl der Schuld an Annies Tod, das sie so verzweifelt hatte abschütteln wollen, war wieder da, und zwar heftiger denn je. Das lag wohl zu einem Großteil an Johns Anrufen.
Sie ging um das Sofa herum und setzte sich rittlings auf die gepolsterte Armlehne. »Du glaubst also wirklich, ein Mitglied ihrer Familie hat sie auf dem Gewissen? Ihr Vater oder ihr Stiefvater oder ihr Bruder?«
»Ich begrenze die Verdächtigen nicht auf die Familie. Aber ich bin sicher, es war jemand, den sie kannte. Vielleicht war es ihr Freund. Ryan Zimmerman lebt in White Castle, nur ein paar Meilen den Mississippi hinauf. Er hat seine Schulkarriere unterbrochen, genau wie Kent, und eine Zeit lang stand er ständig unter Drogen. Irgendwann hat er einen Entzug gemacht, hat weiterstudiert und seinen Abschluss, man höre und staune, an der Loyola-Universität gemacht. Hatte von einer kleineren Uni in Texas hierher gewechselt.«
»Hast du schon mit ihm gesprochen?«
»Noch nicht. Ursprünglich hatte ich die Absicht, mit den Nebenrollen zu beginnen, zu hören, was sie über die Menschen, die Annie nahe standen, zu sagen haben, um mein wahres Ziel nicht zu verraten. Vielleicht hätte ich so einen tieferen Einblick erhalten, aber jetzt bin ich mir dessen nicht mehr so sicher.«
»Wegen der Anrufe, die ich bekomme.«
»Ja.« Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und furchte, offenbar ärgerlich über sich selbst, die Stirn. »Ich habe Angst, dass ich irgendwie diesen grässlichen Ball ins Rollen gebracht habe, und du bist ihm in die Schusslinie geraten.«
»Aber vielleicht ist es auch gar nicht so. Es ist sinnlos, sich darüber Gedanken zu machen. Was weißt du über Ryan? Wie steht’s mit seinem Liebesleben?«
Ty rief das entsprechende Kapitel im Computer auf, doch Sam vermutete, dass er sämtliche Informationen dieser Art in- und auswendig kannte. »Ryan hat letztes Jahr geheiratet, aber er hat sich vor drei Monaten von seiner Frau getrennt. Sie ist eine Einheimische, die er während des Studiums kennen gelernt hat. Sie will sich scheiden lassen, er ist dagegen.« Ty sah Sam fest an.
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