Pain - Bitter sollst du buessen
Flur und das Plattenlager hatten sich selbstverständlich kein bisschen verändert.
Sam atmete ein paar Mal tief durch und rief sich zur Ordnung. Es durfte nicht noch einmal geschehen, dass ein makabrer Scherz sie dermaßen erschütterte.
»Wer war das Mädchen am Telefon?«
»Ich weiß es nicht«, gestand Sam und lehnte sich an die Wand. Sie wischte sich mit der Hand über die Stirn und straffte den Rücken. Denk scharf nach, Sam. Und lass dich nicht von irgendeiner perversen Anruferin aus der Ruhe bringen. »Ich – ich weiß nicht, wer das war. Kann mir nicht vorstellen, wer auf solche Ideen kommt. Aber eins ist klar: Die Anruferin wollte, dass ich sie für Annie Seger halte.« O Gott, das konnte unmöglich Annie gewesen sein! Das Mädchen war seit neun Jahren tot. Tot, weil Sam die Situation nicht richtig erfasst, die Hilferufe des Mädchens nicht ernst genug genommen hatte. Sams Kopf dröhnte, und der Kaffee, den sie zuvor getrunken hatte, schien ihr im Magen zu gerinnen.
Lass dich nicht aus der Ruhe bringen, Sam!
»Sie hat gesagt, sie wäre Annie, und da bist du ausgeflippt«, hielt Tiny ihr vor. »Es machte den Anschein, als würdest du sie kennen.«
»Ich weiß … aber ich kenne … das heißt, ich kannte … Das alles ist so unglaublich!«
»Was denn?« Er streckte wieder die Hand nach ihr aus, überlegte es sich jedoch anders und schob die Hände tief in die Taschen seiner übergroßen Jeans.
»Annie Seger hat vor langer Zeit, als ich noch in Houston arbeitete, in meiner Sendung angerufen.« Ihr kam es vor, als wäre es erst gestern gewesen. Sam erinnerte sich, wie sie die Taste gedrückt, den Anruf angenommen und zugehört hatte, wie das junge Mädchen zögernd erklärte, sie sei schwanger und habe furchtbare Angst. »Annie rief mehrere Abende hintereinander an und bat mich um Rat.« Sam wand sich innerlich bei dem Gedanken daran. Zuerst hatte Annie verschüchtert gewirkt, doch ganz gleich, welchen Ratschlag Sam ihr gab, sie wies ihn zurück, behauptete, sie habe niemanden, mit dem sie reden, niemanden, dem sie sich anvertrauen könne, weder ihren Eltern noch dem Pastor geschweige denn dem Vater des Kindes. »Ich habe versucht, ihr zu helfen, doch es endete damit, dass sie Selbstmord beging.« Sam strich sich das Haar aus dem Gesicht und sah den blassen Schimmer ihres Spiegelbilds im Fenster der Kabine. Auf der anderen Seite der Scheibe saß Melanie an ihrem Pult, sprach ins Mikrofon, moderierte die Sendung. Sam erschien es vollkommen unwirklich, spätnachts hier im Flur zu stehen und sich an ein Ereignis zu erinnern, das zu verdrängen sie sich so sehr bemüht hatte.
»Du glaubst, es war deine Schuld, dass sie sich umgebracht hat?«, fragte Tiny.
»Annies Familie gab mir die Schuld.«
»Das ist hart.«
»Sehr hart.« Sam rieb sich die Arme und rang noch immer um Fassung. Sie musste nun ihre Pflicht erfüllen, ihre Arbeit beenden. Sie beobachtete, wie Melanie den Kopfhörer abnahm und mit ihrem Stuhl zurückrollte. Sekunden später kam sie aus der Kabine. »Dir bleiben sechzig Sekunden, um wieder auf Sendung zu gehen«, sagte sie zu Sam. »Geht’s wieder?«
»Nein«, gab Sam zu. Lieber Himmel, es wird nie wieder gehen. Sie schickte sich an, die Kabine zu betreten. »Aber ich schaff das schon.«
»Eleanor ist auf Leitung zwei. Sie will mit dir reden.«
»Ich habe keine Zeit.«
»Sie ist ziemlich wütend«, verkündete Melanie.
»Kann ich mir vorstellen. Sag ihr, ich stehe ihr nachher zur Verfügung.« Sam konnte sich jetzt unmöglich mit der Programmdirektorin auseinander setzen; sie musste ihre Nerven für den Rest der Sendung schonen.
»Was hat es mit dem Mädchen auf sich, das da angerufen hat?«, fragte Melanie, als sich Sam setzte und automatisch die Kontrollmechanismen prüfte.
»Verrate du’s mir«, fuhr Sam sie an. »Du sollst doch die Anrufe filtern.«
»Das habe ich getan! Und ich habe ihre Anfrage auf Band. Da hat sie auch nicht mit dieser blöden Falsettstimme geredet, sie hat nur gesagt, sie habe ein Problem mit ihrer Schwiegermutter und wolle deinen Rat.« Melanie sah ihre Vorgesetzte finster an. »Also, nimmst du dich jetzt zusammen und gehst wieder auf Sendung, oder was? Sonst übernehme ich das.« Ihre Stimme wurde ein wenig sanfter, und ihre aggressive Rechtfertigungshaltung ließ nach. »Ich kann das! Ist für mich ein Kinderspiel. Tiny könnte die Anrufe filtern. Genauso wie während der Zeit, als du in Mexiko warst.«
»Ich schaff das schon, wirklich. Trotzdem
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