Pain - Bitter sollst du buessen
Aufstellung.
»Das ist immerhin ein Anfang. Die meisten Nummern haben wir. Hier.« Tiny drehte das Blatt um und rollte dann auf seinem Stuhl hinüber zu den Aufzeichnungsgeräten und Computern, um die Vorbereitungen für die Sendungen der nächsten drei Stunden zu beenden.
Sams Blick wanderte über das in Tinys Doktorschrift bekritzelte Blatt Papier. Wie er gesagt hatte, war jeder einzelne Anruf notiert. Neben den Namen stand meist die entsprechende Telefonnummer und hier und da eine Bemerkung. Samantha fuhr mit dem Finger die Liste entlang, fand den Namen Annie sowie die Nummer und die Standortbeschreibung eines Münztelefons.
Natürlich. Wer immer sich hinter der Anruferin verbarg, sie war schlau genug gewesen, keinen Privatanschluss zu benutzen. »Ich brauche eine Kopie von dieser Liste.«
»Für die Polizei?« Melanie zog den Reißverschluss ihrer Aktentasche zu.
»Ja. Und für mich selbst.«
»Was war denn nun eigentlich los in dieser Sendung?«, fragte Melanie und wies mit dem Daumen in Richtung Studio.
Durchs Fenster fiel das schwache Licht der Straßenlaternen drei Stockwerke tiefer hinein, sodass die Umrisse der Geräte in der Kabine auszumachen waren, außerdem Mikrofone an langen, merkwürdig verbogenen Skelettarmen und das Pult mit seinen Tasten und Schaltern. Irgendwie wirkte die Szene beklemmend. Bedrohlich. Aber das war lächerlich, rief sich Sam sofort zur Ordnung.
Melanie riss Sam aus ihren Gedanken. »Komm schon, Sam, wer ist diese Annie? Sie tat so, als würde sie dich kennen, und du bist ja völlig ausgeflippt.«
»Spul das Band zurück. Bis zu dem Moment, als sie sich meldete. Bevor du sie mit mir verbunden hast.«
»Aber –«
»Ich hab’s«, mischte sich Tiny ein. »Momentchen … Da ist es …«
Eine Frauenstimme sagte nach Melanies Begrüßung: »Hier ist Annie. Ich möchte mit Dr. Sam über meine Schwiegermutter reden. Sie mischt sich in meine Ehe ein.«
»Warten Sie. Es dauert nicht lange«, versicherte Melanie, und dann folgte der geflüsterte vorwurfsvolle Text.
Sam bekam erneut eine Gänsehaut.
Tiny hielt die Aufzeichnung an und warf einen Blick über die Schulter auf Sam, um zu sehen, wie sie reagierte. »Wer ist sie?«
»Ich weiß nicht, wer diese Anruferin in Wirklichkeit ist. Ich weiß aber, dass sie nicht Annie Seger ist.« Wer würde anrufen und sich als Annie Seger ausgeben, und wer hatte ein Interesse daran, die alte Tragödie wieder ans Licht zu zerren? »Allerdings – das klingt jetzt eigenartig, aber ich meine, ihre Stimme schon mal gehört zu haben. Nur klang sie da etwas anders …« Sie schloss die Augen. Wer würde dir so etwas antun? Was soll dieser grausame Scherz? Melanie und Tiny schauten sie gespannt an, und sie zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf. »Ich kann sie nicht zuordnen. Im Moment noch nicht. Aber ich finde es heraus.« Ihr war eiskalt, und sie rieb sich die Arme. »Es war ein makabrer Scherz.«
»Noch einer. Wie die Anrufe von diesem John«, bemerkte Tiny.
»O nein, das hier ist anders«, widersprach Sam und dachte zurück an diese grauenhaften einsamen Nächte, als Annie Seger sie beim Sender in Houston angerufen hatte, als die Hörerzahlen der Sendung in die Höhe geschnellt waren, als Dr. Sams Name in aller Munde gewesen war und als ein schwangeres junges Mädchen schließlich Selbstmord begangen hatte. Hatte sie, Sam, nachlässig gehandelt? Hatte sie die Lage falsch eingeschätzt? Hatte es Hinweise darauf gegeben, dass Annie selbstmordgefährdet war? Wie oft waren ihr all diese Fragen schon durch den Kopf gegangen. Wie viele Nächte lang hatte sie wach gelegen, die verzweifelten Anrufe im Geiste noch einmal abgespult, gespürt, wie sich Schuldgefühle über sie legten wie ein Leichentuch. Und wie oft hatte sie sich gefragt, ob sie irgendetwas hätte tun können, um dem Mädchen zu helfen.
»Natürlich ist es anders. Diesmal war es eine Frau, die anrief.« Melanies Blick wanderte von Sam zu Tiny, der mit konzentriert gefurchter Stirn die Lautstärke der aufgezeichneten Sendung einstellte.
Dann fiel Sam ein, dass Melanie die Geschichte ja gar nicht kannte, dass sie in der Kabine gewesen war, als sie Tiny von Annie Seger erzählt hatte.
»Die Frau hat sich als ein Mädchen ausgegeben, das vor Jahren in Sams Sendung angerufen hat. Damals hat Sam noch in Houston gearbeitet. Die Kleine hat sich dann umgebracht«, erklärte Tiny, als wollte er sichergehen, dass er alles richtig verstanden hatte.
»Was?« Melanie wich
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