Pain - Bitter sollst du buessen
Nerven zum Zerreißen gespannt gewesen waren, hatte sich John still verhalten. Hatte er das Spiel aufgegeben? Fing der Spaß an, ihn zu langweilen – wenn es denn nur ein Spaß gewesen war? Hatte er die Stadt verlassen?
Oder wartete er?
Auf den richtigen Augenblick.
Hör auf damit, Sam, das führt doch zu nichts! Sei froh, dass er nicht mehr angerufen hat.
Trotzdem war sie nervös, wie alle anderen beim Sender in verschiedenen Abstufungen ebenfalls. Gator und Rob zogen sie mit ihrem »Freund« auf, Eleanor köchelte vor sich hin, Melanie fand die Sache aufregend, und George Hannah hoffte, dass die Hörerzahlen weiter stiegen.
Sie waren nicht weiter gestiegen. Ohne Johns Anrufe sanken sie wieder auf den üblichen Stand, der, wie sich Sam ärgerlich sagte, ja wohl gut genug war. George, seine stillen Teilhaber und sogar Eleanor waren stets zufrieden gewesen.
Aber jetzt nicht mehr.
Eleanor hatte sie beschwichtigt: »Mach dir deswegen keine Gedanken, Schätzchen. Hauptsache, der Perverse ist von der Bildfläche verschwunden. Was George betrifft, so soll er sich etwas Kluges einfallen lassen, um ein größeres Publikum anzulocken. Wir wollen nur hoffen, dass sich dieser John nie wieder meldet.«
Sam hatte ihr innerlich zugestimmt, und doch wünschte sich ein Teil von ihr, noch einmal mit ihm zu reden, und sei es nur, um herauszufinden, was ihn umtrieb. Warum er sie anrief. Wer er war. Vom Standpunkt der Psychologin aus betrachtet war er interessant. Vom Standpunkt einer Frau aus jedoch jagte er ihr ganz schön Angst ein.
Sie schloss die Kabinentür hinter sich. Nachdem sie sich gesetzt und den Kopfhörer über die Ohren gestülpt hatte, stellte sie die Kontrolllampen ein, prüfte den Computerbildschirm und warf einen Blick durch die Scheibe in die Nebenkabine. Melanie saß an ihrem Schreibtisch, machte sich an Tasten und Knöpfen zu schaffen und hob den Daumen in Sams Richtung, um anzuzeigen, dass sie bereit war, die Anrufe dieser Nacht zu filtern. Tiny war bei ihr, sank gerade auf seinen Stuhl und sagte etwas zu ihr, das Sam nicht hören konnte. Sie lachten, wirkten entspannt, und Tiny riss eine Coladose auf.
Während der letzten paar Nächte hatte Sam von Sünde, Strafe und Vergebung zurück zum Thema Beziehungen gelenkt, was natürlich die Grundlage der Sendung überhaupt war. Alles normalisierte sich. Alles lief fast wieder so wie in der Zeit vor Johns Anrufen. Warum bloß hatte die Hochspannung, die sie Nacht für Nacht spürte, sobald sie ihren Platz in dieser Kabine einnahm, nicht nachgelassen, sondern sich sogar noch gesteigert?
Melanie gab ihr durchs Fenster ein Zeichen, und die Erkennungsmelodie erfüllte die Kabine. John Lennons Stimme, die »It’s Been A Hard Day’s Night« sang, erscholl aus den Lautsprechern und verklang dann leise.
Sam beugte sich über das Mikrofon. »Guten Abend, New Orleans, und herzlich willkommen. Hier ist Dr. Sam mit ›Mitternachtsbeichte‹ auf WSLJ , und ich möchte gern hören, was ihr denkt …« Sie begann zu reden, sich zu entspannen. Am Mikrofon fühlte sie sich heimisch. »Vor ein paar Tagen habe ich mit meinem Dad telefoniert, und obwohl ich über dreißig bin, glaubt er, er könne mir immer noch sagen, was ich zu tun und zu lassen habe«, erzählte sie, um mit dem Publikum warm zu werden, in der Hoffnung, dass jemand ähnliche Erfahrungen gemacht hatte und anrief. »Er lebt an der Westküste, und allmählich habe ich das Gefühl, ich sollte jetzt, da er in die Jahre kommt, in seiner Nähe sein.« Sie sprach noch eine Weile lang von Eltern-Kind-Beziehungen, und dann fingen die Kontrolllämpchen der Leitungen an zu blinken.
Der erste Anrufer legte wieder auf, der zweite war eine Frau, deren Mutter an den Folgen eines Schlaganfalls litt; sie fühlte sich zerrissen zwischen ihrem Job, ihren Kindern, ihrem Mann und dem Wissen, dass ihre Mutter sie brauchte. Der dritte Anruf stammte von einem aufsässigen Mädchen, das sich von seinen Eltern nichts vorschreiben lassen wollte. Angeblich verstanden sie sie einfach nicht.
Daraufhin erfolgte Rückmeldung von Erwachsenen und Jugendlichen, die allesamt der Meinung waren, die Anruferin sollte auf ihre Eltern hören.
Sam wurde noch ruhiger und nahm einen Schluck aus ihrer halb leeren Kaffeetasse. Die Debatte ging weiter, und schließlich rief auf Leitung Nummer drei jemand an. Sam nahm das Gespräch entgegen. »Hi«, sagte sie, »hier ist Dr. Sam, mit wem spreche ich?«
»Annie«, flüsterte eine zaghafte, hohe Stimme.
Weitere Kostenlose Bücher