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Pain - Bitter sollst du buessen

Pain - Bitter sollst du buessen

Titel: Pain - Bitter sollst du buessen Kostenlos Bücher Online Lesen
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Eine Stimme, die Sam vage bekannt vorkam. Doch das zu der Stimme gehörige Gesicht konnte sie sich nicht vorstellen. Wahrscheinlich rief das Mädchen regelmäßig in der Sendung an.
    »Hallo, Annie, worüber möchtest du heute Nacht reden?«
    »Erinnern Sie sich nicht an mich?«, fragte das Mädchen.
    Sam spürte wie ein Warnsignal, dass sich ihre Nackenhaare sträubten. Annie?
    »Tut mir leid. Vielleicht kannst du mir einen Hinweis –«
    »Ich habe Sie schon einmal angerufen.«
    »Ach ja? Wann denn?«, erkundigte sich Sam, doch die leicht heisere Stimme hörte nicht auf zu reden, hielt lediglich inne, um Luft zu holen, und flüsterte weiter ins Studio hinein.
    »Donnerstag ist mein Geburtstag. Ich würde dann fünfundzwanzig Jahre alt …«
    »Würde?«, wiederholte Samantha, und ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken.
    »… Sie erinnern sich bestimmt. Ich habe Sie vor neun Jahren angerufen, und Sie haben mir gesagt, ich soll verschwinden. Sie haben nicht zugehört, und …«
    »O Gott«, entfuhr es Sam, und ihre Augen weiteten sich. Ihr Herz setzte unter dem grauenhaften Eindruck eines Déjà-vu-Erlebnisses einen Schlag lang aus. Annie? Annie Seger? Das konnte nicht sein. In ihrem Kopf drehte sich alles, katapultierte sie zurück in eine Zeit, die sie hatte vergessen wollen.
    »Sie müssen mir helfen. Sie sind doch Doktorin der Psychologie, oder? Bitte, Sie sind meine einzige Hoffnung«, hatte Annie vor all diesen Jahren gefleht. »Bitte helfen Sie mir. Bitte!« Schuldgefühle schnürten Sam nun die Kehle zu.
Herrgott, warum passierte das ein zweites Mal?
»Wer spricht dort?«, sprach Sam gepresst ins Mikrofon. Aus den Augenwinkeln sah sie Melanie in der Nebenkabine, die den Kopf schüttelte, die geöffneten Hände ratlos erhoben, als wäre es erneut einem Anrufer gelungen, sich an ihr vorbeizumogeln. Tiny schaute wie gebannt durch die Scheibe, die Augen auf Sam geheftet, die Colabüchse in seiner großen Hand war vergessen.
    »… und Sie haben mir nicht geholfen«, klagte die Flüsterstimme, ohne Sams Frage zu beachten. »Was dann passierte, Dr. Sam, daran werden Sie sich doch wohl erinnern, oder?«
    Sams Kopf dröhnte, ihre Hände waren schweißnass. »Ich habe dich nach deinem Namen gefragt, Annie. Nach deinem vollständigen Namen.«
    Klick. Die Leitung war tot. Sam saß da wie erstarrt.
    Annie Seger.
    Nein, das war unmöglich! Ihr Magen krampfte sich zusammen.
    Es war so lange her, und doch brach jetzt, da sie wie damals in ihrer Kabine saß, alles wie eine Flutwelle über sie herein, überrollte ihren Verstand und ließ sie taub und kalt zurück. Das Mädchen war gestorben. Ihretwegen. Weil sie nicht hatte helfen können. O Gott, bitte nicht noch einmal!
    »Samantha! Samantha!« Melanies Stimme drang in ihr Bewusstsein vor, aber trotzdem konnte sie sich kaum rühren. »Herrgott noch mal, reiß dich zusammen!« Sam spürte an ihren Armen Melanies Hände, die sie aus ihrem Stuhl rissen, sie vom Schreibtisch und vom Mikrofon wegschubsten und zu Tiny schoben. Immer noch unter Schock stolperte Sam und spürte einen heftigen Schmerz im Knöchel. Ruckartig kam sie zu sich, realisierte, dass sie in New Orleans war, auf Sendung. »Ist dir nicht klar, dass deine Sendung ins Leere läuft? Jetzt reiß dich zusammen«, wiederholte Melanie, stülpte sich den Kopfhörer über die Ohren und griff nach dem Mikrofon. »Schaff sie hier raus«, befahl sie Tiny.
    »Moment mal. Ich habe alles im Griff.« Sam ließ sich nicht vertreiben.
    »Das habe ich gemerkt!« Melanie sah sie böse an und scheuchte sie hinaus in den Flur. Tiny zog Sam aus der Kabine, und Melanie beugte sich über das Mikrofon, schaltete es ein, und ihre Stimme wurde weich. »Bitte entschuldigt die Unterbrechung; wir bei WSLJ standen eben vor einer kleinen technischen Panne. Danke für eure Geduld. ›Mitternachtsbeichte‹ mit Dr. Samantha Leeds wird in wenigen Minuten fortgesetzt. Nun zunächst das Wetter.« Wie eine Expertin drückte Melanie die Taste für die automatische Aufzeichnung, die den Wetterbericht und ein paar Werbespots vom Band abspielte.
    »Was war da drinnen los?«, fragte Tiny. Er bemerkte plötzlich, dass er Sam am Oberarm festhielt, ließ sie los und wich einen Schritt zurück.
    Die Stimmung im Flur war gespenstisch; er wirkte dunkler als sonst, und der Glaskasten, in dem die alten Platten gelagert wurden, strahlte einen merkwürdigen, unwirklichen Schimmer ab. Das war natürlich Unsinn. Ihre Nerven spielten Sam einen Streich. Der

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