Pain - Bitter sollst du buessen
hübsches, privilegiertes Mädchen, Kapitän der Cheerleader-Gruppe, Musterschülerin, tot durch Selbstmord.
Ein Mädchen, das schwanger gewesen war.
Und allein. Ein Mädchen, das um Hilfe gefleht und keine bekommen hatte.
Durch das Foto war Sam die ganze Tragödie des jungen Mädchens zum Bewusstsein gekommen. Sie war am Boden zerstört gewesen, und das Bild der lächelnden Annie verfolgte sie noch heute. »Danach habe ich den Job an den Nagel gehängt. Habe Urlaub genommen und mich bei meinem Dad verkrochen. Dann habe ich eine Praxis in Santa Monica eröffnet. Eleanor konnte mich nur mit großer Mühe dazu überreden, dass ich mich wieder hinters Mikrofon setzte und eine Sendung moderiere.« Sie zupfte mit den Fingern an ihrer Decke. »Und jetzt fängt alles von vorn an.«
»Und am Donnerstag wäre Annies fünfundzwanzigster Geburtstag?«
»Anscheinend.« Sam zuckte mit einer Schulter. Ihr war kalt bis in die Knochen. Obwohl es warm im Zimmer war, wickelte sie sich fester in die Decke ein. »Ich verstehe einfach nicht, warum jemand das alles jetzt wieder ans Licht zerren will.«
»Das verstehe ich auch nicht«, sagte Ty und schaute ihr eine Sekunde länger als nötig tief in die Augen. »Falls du etwas hörst oder siehst, was dir zu denken gibt – ganz gleich, was es ist –, ruf mich an.« Er zog einen Stift aus seiner Hosentasche, ging zum Nachttisch und schrieb etwas auf den Notizblock neben dem Telefon. »Das hier sind die Nummern, unter denen ich erreichbar bin – Festnetz und Handy. Verlier sie nicht.« Er riss das oberste Blatt ab, trat zu ihr an den Schaukelstuhl und reichte ihr den Zettel.
»Das würde mir nie passieren«, erwiderte sie und musste ein Gähnen unterdrücken.
Ty warf noch einen Blick auf das Bett mit der luftigen Bettdecke, den Zierkissen und dem gerüschten Baldachin. »Geh zu Bett, großes Mädchen. Du hast einen langen Tag gehabt.«
»Einen sehr langen«, pflichtete sie ihm bei. Es kam ihr so vor, als hätte dieser Tag eine Ewigkeit gedauert.
Zu ihrer Überraschung griff Ty nach ihren Händen, zog sie mitsamt der Decke aus dem Stuhl hoch und nahm sie in die Arme.
»Ruf mich an«, bat er und senkte den Kopf, sodass seine Stirn die ihre berührte.
Jeder Gedanke an Schlaf war ausgelöscht. Das gemütliche Zimmer mit den Dachschrägen schien zu schrumpfen. Wärmer zu werden.
»Auch dann, wenn du nur Angst bekommen solltest.« Mit einem kräftigen Finger hob er ihr Kinn an. »Versprich es mir.«
»Aber sicher. Pfadfinder-Ehrenwort«, sagte sie mit wild pochendem Herzen. Der Duft von altem Leder mischte sich mit einem verbliebenen Hauch von Aftershave und diesem männlichen Geruch, den sie schon sehr lange nicht mehr wahrgenommen hatte.
»Ich verlass mich drauf.«
Er betrachtete ihren Mund, und sie rechnete mit einem Kuss. O Gott. Ihr Hals wurde trocken, ihre Haut prickelte erwartungsvoll. Als wüsste er genau, was sie empfand, welche Art von Reaktion er in ihr hervorgerufen hatte, besaß er die Unverschämtheit zu lächeln, sein unwiderstehliches, freches Lächeln, das ihr den Atem nahm.
»Gute Nacht, Sam«, sagte er, hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn und ließ sie wieder los. »Achte darauf, dass du die Türen abschließt, und ruf mich an, wenn du Probleme hast.«
Du bist mein Problem,
dachte sie, als er zur Tür hinausging.
Verdammt noch mal, Ty Wheeler, du bist mein größtes Problem!
Zwei Stunden später saß Ty vor seiner Tastatur, den Hund zu seinen Füßen, die Fenster geöffnet, um die frische Brise einzulassen, und blätterte in seinen Notizen. Während er seine Aufzeichnungen zu Annie Seger durchging, schmolzen die Eiswürfel in dem Drink, der nahezu vergessen auf seinem Schreibtisch stand. Er kannte sie auswendig, und doch studierte er sie, als hätte er Annies Namen nie zuvor gehört.
Was lächerlich war, denn schließlich war er entfernt mit ihr verwandt.
Seine Cousine dritten Grades. Der Grund dafür, dass er von dem Fall suspendiert worden war.
Er las die vergilbten Zeitungsausschnitte, las die Tatsachen, die er sich schon vor langer Zeit eingeprägt hatte: Zu verängstigt, um ihren Eltern zu gestehen, dass sie schwanger war, suchte sie Rat bei einer ortsansässigen Radiopsychologin, bei Dr. Samantha Leeds, doch deren Rat konnte sie nicht befolgen. Sie fühlte sich von aller Welt verlassen, und als der Vater des Kindes ihr zu verstehen gab, dass er keine Lust habe, eine Familie zu gründen, ging sie in ihr Zimmer, schaltete den Computer ein,
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