Pain - Bitter sollst du buessen
schließlich um ihren eigenen Körper und um ihr Kind. Als das Publikum das hörte, blinkten die Kontrolllampen der Leitungen natürlich wie das Feuerwerk am vierten Juli. Jeder wollte seinen Senf dazu abgeben. Ich bat Annie, mich außerhalb der Sendung anzurufen. Ich wollte ihr dann die Telefonnummern von Therapeuten und Beratungsstellen geben, wo ihr gezielt geholfen werden konnte.«
Sam stieß bei der Erinnerung an diese schmerzvollen Tage langsam den Atem aus. »Vielleicht war ich damals nicht unbedingt die beste Adresse für Ratsuchende«, gestand sie, auf diese schwarze Zeit in ihrem Leben zurückblickend. »Ich war erst seit ein paar Monaten in Houston, und den Job habe ich bekommen, weil die Frau, die die Sendung vorher moderierte, gekündigt hatte. Ich sollte im Grunde nur zeitweilig einspringen, doch die Publikumsreaktionen waren großartig – das Gehalt jedoch weniger. Dann bot man mir eine Gehaltserhöhung an, und ich blieb.«
Sie verdrehte die Augen angesichts ihrer Naivität, stieß sich mit den Zehen vom Boden ab und begann, langsam zu schaukeln. »Zwar lief längst alles auf die Scheidung von Jeremy hinaus, aber meine Karriere war ihm trotzdem ein Dorn im Auge. Ausnahmsweise stand ich, nicht er, im Rampenlicht, und ich glaube, das hat unserer Ehe den Todesstoß versetzt. Ich wollte den Job auf keinen Fall aufgeben, und binnen Wochen – möglicherweise binnen weniger Tage – hatte er sich eine andere an Land gezogen … Das heißt, ich habe den Verdacht, dass er schon lange mit ihr zusammen war, aber das ist eine andere Geschichte«, fügte sie hinzu, selbst erstaunt darüber, dass sie so viel offenbarte. »Zurück zu Annie Seger. Das Endergebnis war, dass Annie nicht auf meinen Rat hörte, mich nicht nach der Sendung anrief, wohl aber jede zweite Nacht während meines Programms. Und das Publikum tobte. Die Leute riefen an wie verrückt. Jeder, vom Vorsitzenden des ortsansässigen Vereins für das Recht auf Leben über diverse Größen aus der Jugendfürsorge bis zum Schreiberling des Lokalblättchens, hatte etwas zu sagen. Die Sache wurde gewaltig aufgebauscht. Anwälte kontaktierten mich und boten Geld für Annies Baby, Ehepaare meldeten sich, die Annies Baby adoptieren wollten. Junge Mütter riefen an, Frauen, die abgetrieben oder eine Fehlgeburt erlitten oder den falschen Mann geheiratet hatten, weil sie schwanger geworden und von ihren Eltern zur Ehe gezwungen worden waren. Es war ein Riesenrummel. Und mittendrin steckte eine einsame, verängstigte Sechzehnjährige.«
Sam fröstelte bei dem Gedanken daran, wie sie in der fensterlosen Kabine im Herzen des Gebäudes gesessen, Anrufe angenommen und sich gefragt hatte, ob sich Annie noch einmal melden würde. George Hannah, der Eigentümer des Senders, war außer sich vor Begeisterung über die Hörerzahlen gewesen, und auch Eleanor hatte sich über den Publikumszuwachs gefreut. »Alle Mitarbeiter des Senders waren völlig aus dem Häuschen. Wir übertrumpften den Konkurrenzsender, und das war das Einzige, was zählte. Die Quoten schossen in die Höhe, weiß Gott! Und der Umsatz sah viel versprechend aus.« Sam konnte den Sarkasmus in ihrer Stimme nicht unterdrücken.
Aber inmitten all dieses Aufruhrs war Annie verzweifelt gewesen. Und Samantha hatte sie im Stich gelassen. Selbst jetzt noch, nach all den Jahren, spürte Sam die Verzweiflung und die Panik des Mädchens. Ihre Beschämung.
»Ich habe versucht, auf sie einzuwirken, aber sie fand nicht die Kraft, sich jemandem, der ihr nahe stand, anzuvertrauen. Konnte oder wollte nicht mit einem Vertrauenslehrer oder jemandem aus der Gemeinde sprechen. Aus irgendeinem Grunde wurde sie wütend auf mich. Als wäre alles meine Schuld. Es war schrecklich! Einfach … schrecklich.« Sam atmete tief durch und sagte: »Dann, nachdem sie mich zum siebten oder achten Mal angerufen hatte, etwa drei Wochen, nachdem sie sich zum ersten Mal bei mir gemeldet hatte, wurde sie tot aufgefunden. Eine Überdosis, außerdem aufgeschlitzte Pulsadern. Die rezeptpflichtigen Schlaftabletten ihrer Mutter, einen kleinen Rest Wodka und eine blutige Gartenschere fand man bei der Leiche. Auf ihrem Computer wurde ein Abschiedsbrief entdeckt. Annie schrieb, dass sie sich schäme, sich allein gelassen fühle, dass niemand da sei, der ihr helfen könne, weder ihre Eltern noch ihr Freund noch ich.«
Sam entsann sich, wie sie am nächsten Tag die Titelseite der Zeitung mit dem Schwarzweißfoto von Annie Seger gesehen hatte. Ein
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