Pain - Bitter sollst du buessen
schrieb einen Abschiedsbrief und nahm Schlaftabletten mit Wodka ein. Als sich dieser Cocktail als nicht ausreichend erwies, schlitzte sie sich die Pulsadern auf.
Es war ein Skandal gewesen, der das wohlhabende Viertel in Houston erschüttert hatte. Bald danach war Dr. Sams Sendung aus dem Programm genommen worden, aber keineswegs wegen zu niedriger Hörerzahlen. Im Gegenteil, die Beliebtheit der Sendung hatte sich ins Maßlose gesteigert, und Dr. Sam war quasi berühmt geworden – oder vielmehr berüchtigt.
Doch Samantha Leeds hatte, wie es aussah, mit dem zweifelhaften Ruhm nicht leben können. Sie hatte die Sendung aufgegeben, dem Radiosender den Rücken gekehrt und sich als Psychologin niedergelassen. Und vor einem halben Jahr war sie von ihren Exkollegen aus Houston nach New Orleans gelockt worden.
Ty nahm einen Schluck von seinem Drink. Zerbiss ein Stück Eis zwischen den Zähnen.
Er erinnerte sich deutlich an alles, was Annie Seger betraf. Er war als einer der Ersten in ihrem Elternhaus eingetroffen und hatte miterlebt, wie ihre gesamte Familie mit einem Schlag zerstört worden war.
Annie war ein hübsches Mädchen gewesen, mit ein paar Sommersprossen auf der Nase, kurzem rötlichem Haar und blitzenden blaugrünen Augen.
Ein unnützer Tod.
Eine Schande.
Ty ging, seinen Drink in der Hand, nach draußen und lauschte dem Plätschern der Wellen am Anleger. Sasquatch folgte ihm und trottete, die Nase im Wind, von der Veranda hinunter in den Garten, wo er an einer stattlichen immergrünen Eiche sein Bein hob.
Während der Hund zwischen den Bäumen hindurchtrabte und am Boden schnupperte, zirpten Grillen, und ein einsamer Frosch quakte. Ty blickte zur Strahlender Engel hinüber, die mit gerefften Segeln sanft am Dock schaukelte. Irgendwo in der Ferne heulte gedämpft eine Sirene. Am Horizont zeigte sich das erste graue Licht des anbrechenden Morgens.
Ty dachte an Samantha Leeds, die nur eine Viertelmeile weit von ihm entfernt war.
Eine schöne Frau.
Eine intelligente Frau.
Eine verdammt faszinierende Frau.
Eine Frau, mit der er gern immer und immer wieder schlafen würde. Während er sich selbst einen Idioten nannte, stellte er sich vor, wie es wäre, mit ihr ins Bett zu gehen, ihren schweren Atem zu hören oder ihre Haut, weich wie Seide, an seinem Körper zu spüren.
Kein Zweifel, sie ging ihm unter die Haut.
Und er ließ es zu.
Was ein kolossaler Fehler war.
Er leerte sein Glas und pfiff, schon auf dem Weg ins Haus, seinen alten Schäferhund herbei.
Das Letzte, das Allerletzte, was er sich erlauben konnte, war, sein Ziel aus den Augen zu verlieren, seine Objektivität aufzugeben. Er hatte sich etwas geschworen, und niemand, schon gar nicht die Radiopsychologin, die seine Cousine in ihrer Not angerufen hatte, würde ihn aufhalten können.
»Warum haben Sie mir nicht geholfen, Dr. Sam? Warum nicht?«
Die Stimme klang jung und unsicher und schien von weither aus den Nebelschwaden und dichten Bäumen zu kommen. Samantha folgte der Stimme; mit klopfendem Herzen und atemlos versuchte sie, durch die mit Spanischem Moos behangenen Äste zu spähen, die ihr die Sicht raubten.
»Annie? Wo bist du?«, rief sie, und der Wald warf das Echo ihrer Stimme laut zurück.
»Hier drüben …«
Sam lief los, stolperte über Wurzeln und Ranken, blinzelte in die Dunkelheit und hörte über den einsamen Schrei einer Eule hinweg in der Ferne die Geräusche der Autobahn. Warum hatte Annie sie hierher gelockt, was wollte sie von ihr?
»Ich finde dich nicht.«
»Weil Sie sich nicht genug Mühe geben.«
»Aber wo …« Sie durchbrach die dichte Reihe der Bäume und erblickte ein Mädchen, ein hübsches Mädchen mit kurzem roten Haar und großen Augen, aus dessen Zügen wilde Angst sprach. Es stand mitten auf einem Friedhof mit Grabsteinen und ausgehobenen Särgen, nur durch einen filigranen schmiedeeisernen Zaun von Samantha getrennt. In den Armen hielt sie ein Baby in zerfetzten Windeln. Das Baby weinte, jammerte kläglich, als hätte es Schmerzen.
»Tut mir leid«, sagte Sam und ging auf der Suche nach dem Eingang am Zaun entlang, um zu Annie zu gelangen.
»Ich habe Sie angerufen. Ich habe Sie um Hilfe gebeten. Und Sie haben mich abgewiesen.«
»Nein, ich wollte dir helfen, wirklich!«
»Sie lügen!«
Sam strich mit den Fingern am Zaun entlang, lief schneller, hielt nach dem Eingang Ausschau, aber ganz gleich, um wie viele Ecken sie bog, wie weit sie durch den aufsteigenden Nebel lief – sie konnte das
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