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Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte

Titel: Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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pelzigen Begleiters.
    »Und woran kann-man das Böse erkenn’n?« Nuschel meisterte den Aufstieg zum Schlossberg erheblich leichtfüßiger als sie. Er hatte sogar noch Puste, um während ihrer Unterhaltung hin und her zu rennen.
    »An seinen Früchten, an dem, was unterm Strich herauskommt. Jemand mag dich noch so schmeichelhaft umgarnen oder sogar von der Aufrichtigkeit seiner Beteuerungen überzeugt sein und irrt trotzdem, wenn seine Taten seine Worte Lügen strafen. Denk nur an die Bündel in den Netzen, die wir an den Wänden der Schlucht gesehen und für Kokons gehalten haben – vermutlich waren es nur Leichtgläubige, die sich da in der Lüge verstrickt hatten.«
    »Du meinst, die Käferspinne hat sie eingewickelt?«
    »Ja, aufgehängt zum baldigen Verzehr. Bei all den Leichen in ihrem Keller hätte sie noch tausendmal freundlicher sein können und ich wäre ihr trotzdem nicht auf den Leim gegangen.«
    »Wirst-du Zitto auch zermatsch’n, Pala?«
    »Er ist ein Mensch, Nuschel. Hoffe ich jedenfalls. Menschen zertritt man nicht.«
    »Und Tiere schon?«
    »Natürlich nicht! Normalerweise kann ich keiner Fliege etwas zu Leide tun, aber bei der Lüge war das anders. Ich habe es gespürt. Sie sah nur aus wie ein Tier, aber in Wirklichkeit war sie…«
    »‘n Gespenst?«
    »Sagen wir, ein übler, zersetzender Geist. Und jetzt sollten wir besser still sein, damit man uns auf der Burg nicht hört.«
    Das Mädchen ließ seinen Blick prüfend über den Hang des Schlossberges schweifen. Er war mit Gras bewachsen, durch das sich häufig nackte Felsen bohrten. Hier und da schossen schlanke Nadelbäume auf. Pala hielt sich vom Hauptweg fern und nutzte jede Deckung. Bei nüchterner Betrachtung durfte sie kaum damit rechnen, unbemerkt geblieben zu sein – der Wolkenschlund war ja nicht gerade unauffällig gewesen. Inzwischen verdeckte den Himmel wieder ein lückenloser, wenn auch noch etwas dünner grauer Schleier. Die Sonne, dicht über dem Horizont, war nur noch als verschwommener Lichtfleck auszumachen.
    Je näher Pala der Zitadelle kam, desto merkwürdiger erschien ihr diese. Die Gebäude wurden von einer wuchtigen Ringmauer umschlossen, deren Beschaffenheit, soweit zu erkennen, ungewöhnlich war. Diese Empfindung konnte Pala zunächst nicht begründen, zumal das abnehmende Licht des späten Nachmittags ihre Beobachtungen erschwerte.
    Doch je näher sie der Festung kam, desto mehr wunderte sie sich. Mit den Mauersteinen stimmte etwas nicht. Sie sahen aus wie Bücher.
    Neue Kraft floss nun in Palas Beine. Schnell eilte sie den Hang hinauf, Nuschel immer in ihrer Nähe. Dicht unterhalb der Umschanzung konnte sie ihren Verdacht endlich von allen Zweifeln befreien. Sie blieb stehen und schüttelte fassungslos den Kopf. Die nahezu wiederhergestellte Burg bestand tatsächlich aus Papier, Pappe, Leder, Leinen, also aus Materialien, die zur Errichtung von Festungsanlagen schlechthin unüblich waren. Besaßen diese zahllosen Zeugnisse menschlichen Einfallsreichtums ihr ursprüngliches Wesen etwa nur noch hier in Zittos verwunschenem Reich? Hatten sie sich in Silencias Wirklichkeit längst in nichts sagende Steine verwandelt?
    Alsbald erreichten Mädchen und Nuschel den Burggraben. Er war randvoll mit trübem Wasser gefüllt, das Tor auf der anderen Seite mit einer hochgezogenen Zugbrücke verschlossen. Pala witterte eine neue Falle.
    »Wenn wir den Graben durchschwimmen, wird er entweder zu einem breiten Fluss werden oder es kommen Krokodile und fressen uns auf«, grübelte Pala.
    »Glaub-ich-nich’«, sagte Nuschel.
    »Du hast Recht: Krokodile scheiden aus. Die gibt’s ja wirklich. Hast du eine Ahnung, wie das Rätsel lauten könnte?«
    »Nö.«
    »Dachte ich mir. Dann muss ich’s wohl oder übel wieder selbst ausschwitzen.«
    Pala schnappte sich eine Haarlocke, wickelte sie um den linken Zeigefinger, steckte sie sich anschließend in den Mund und zwirbelte hierauf eine andere.
    Einmal mehr drängte sich ihr die Frage nach ihren leiblichen Eltern auf. Warum hatten sie ihr Kind überhaupt fortgegeben? Weil sie es nicht wollten. Diese Antwort schoss Pala als Erstes durch den Kopf. Das Kleine verdiente die Liebe seiner Eltern nicht. Vielleicht hatte es immer so laut geschrien. Oder sie waren über das Neugeborene in Streit geraten und hatten sich seiner entledigt, um nicht selbst einander zu verlieren…
    »Nein!«, zischte Pala und das Nuschel neben ihr zuckte erschrocken zusammen. Sie durfte nicht wieder den gleichen Fehler

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