Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte
oben zu blicken. Vor dem strahlend blauen Himmel senkte sich behäbig ein riesiges, schwarzes, vielgliedriges Etwas auf sie herab.
»Monströs!«, hauchte Pala und erstarrte zu Eis. Das zitternde Nuschel in ihrem Nacken hatte sie völlig vergessen. Eine Welle der Angst schoss durch sie hindurch und schien ihren Verstand fortreißen zu wollen. Mit aller Macht kämpfte sie dagegen an. Wenn jetzt die Dämme ihres Willens brachen, dann würde sie im Tang und Schlamm des Wahnsinns versinken. Auch dieses Ding ist nur ein Phantasiegeschöpf Zittos, machte sie sich klar, gebildet aus dem Urstoff der Worte. Du musst es genau anschauen, jedes einzelne Glied, seine überwältigende Abscheulichkeit so lange in kleine Teile zerlegen, bis es dich nicht mehr schrecken kann.
Im Gegenlicht konnte Pala kaum mehr als krabbelnde Umrisse sehen. Vielleicht war es auch gut so, denn allein der Scherenschnitt dieses Unwesens konnte einem das Blut in den Adern gefrieren lassen. Sein unverhüllter Anblick musste jedem Betrachter unweigerlich den Verstand rauben oder ihn gleich zu Tode erschrecken. Die langen, hakenbewehrten, haarigen Beine der grässlichen Kreatur stützten sich beiderseits der Klammwände ab, so groß war sie. Auf diese Weise kroch sie auf ihr angststarres Opfer zu.
Dem Schattenbild nach glich sie einem Käfer, einer Spinne, einem Krebs, einer Heuschrecke und doch keinem von allen. Zwei der oberhalb des Körpers angewinkelten Hinterbeine sahen so lang und kräftig aus, als könne sie damit große Sprünge machen. Die Gesamtanzahl ihrer Beine musste irgendwo zwischen zehn und zwanzig liegen. Stielaugen hatte sie mindestens genauso viele. Der Körper war oval, durch eine Wespentaille zergliedert und besaß einen kantigen Kopf, aus dem ein Paar zangenartiger Werkzeuge ragten. Sie dienten, wie Pala vermutete, zur Zerkleinerung der Jagdbeute dieses… Ja, worum handelte es sich bei dieser gepanzerten, vielgliedrigen Riesenbestie überhaupt?
Je näher das Untier kam, desto kleiner wurde es, was Pala durchaus begrüßte. Während sie sich das Gehirn nach einem passenden Namen für die Käferspinnenkrebsheuschrecke zermarterte, verfolgte sie deren Hinüberwechseln zur linken Wand – die Klamm war dem geschrumpften Krabbler schlichtweg zu breit geworden. Als er dann vor dem Mädchen den Boden erreichte, war er nur noch so groß wie ein Pony. Immerhin, dachte Pala, und trat einige Schritte zurück…
Hatte sie sich getäuscht oder war das Monstrum gerade wieder ein Stück größer geworden? Vielleicht eine Drohgebärde, die man besser ernst nehmen sollte, überlegte das Mädchen und musterte sein Gegenüber mit einer Mischung aus Furcht und Abscheu.
Der Käferspinnenkrebs richtete gerade einige Augen zum blauen Himmel empor und wirkte irgendwie unzufrieden. Ohne diesen lichten Hintergrund konnte ihn Pala nun deutlicher erkennen. Sein gepanzerter Körper schimmerte metallisch in den Tönen Grün, Blau und Braun. Abgesehen von den großen Kneifzangen verfügte er noch über eine Reihe von Werkzeugen zur Nahrungsmittelhandhabung, die sein gieriges Maul umwuselten wie eine Horde Maden. Auf dem scharfkantigen Käferkopf entdeckte Pala einige weitere Augen, die nicht auf Stielen saßen. Sie schätzte sich froh, diese grauenvolle Kreatur zuvor nicht in ihrer vollen Größe gesehen zu haben. Während Pala ihre missliche Lage noch überdachte, begann die Käferspinne mit einer hellen und alles andere als unfreundlich klingenden Stimme zu reden.
»Ei, wen haben wir denn da?«
»Ich heiße Pala«, sagte Pala mit fester Stimme, ihre inneren Nöte mühsam verhehlend. »Und wer bist du?«
»Na, wer schon?«, erwiderte die Käferspinne. »Es liegt in meiner Natur, niemals zu lügen: Ich bin die Wahrheit.«
»Nichts für ungut, aber so hässlich kann die gar nicht sein.«
»Wer redet hier von Hässlichkeit? Ich bin bildhübsch.«
»Das kannst du dem Schornsteinfeger bei Neumond erzählen. Nächstens wirst du mir noch weismachen wollen, ein harmloser Pflanzenfresser zu sein.«
»Woher hast du das gewusst?«, fragte die Käferspinne und gab sich überrascht.
»Du lügst doch, wenn du dein Maul aufmachst…« Pala fuhr sich mit der Hand zum Mund, weil ihr gerade etwas Wichtiges eingefallen war. Tozzo hatte kürzlich von einer reißenden Bestie berichtet, »dem vielleicht schlimmsten Ungeheuer in Zittos ganzem Reich«: von der Lüge. Ihretwegen fürchteten die Wortklauber jede Form von Unwahrheit, Verrat und Falschheit. Mit einem Mal wusste
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