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Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte

Titel: Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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machen und sich mit den einfachen Antworten bequemen. Was hatte Nonno Gaspare einmal gesagt? Wer die edlen Beweggründe anderer in Zweifel stellt, der steht vor einem tiefen Graben und sieht ihn nicht einmal. Ihm bleibt nur, hineinzustürzen oder auf der Seite seiner Vorbehalte zu verhungern.
    »Es muss einen anderen Grund geben, weshalb ich von meinen Eltern getrennt wurde«, flüsterte Pala und ihre Augen bekamen dabei einen fiebrigen Glanz. Sie verspürte ein leichtes Schwindelgefühl und ließ unvermittelt die Strähne vom Finger schnellen.
    »Wie wär’s damit: ›Welche Gräben sind am schwersten zu überwinden?‹«
    »Weiß-ich-nich.«
    »Die Antwort ist ganz einfach, Nuschel. Es sind die in unseren Köpfen, die eigene Beschränktheit, unsere Voreingenommenheit gegenüber anderen. Wir müssen aufhören, uns als Zentrum des Universums zu sehen, sondern Platz machen für die anderen. Ich habe meine Eltern nicht verstanden, weil ich ihre Worte und Taten nur aus meiner Warte betrachtet habe, aber das war verkehrt, Nuschel. So lange wir unser eigenes Urteil für unfehlbar halten, werden wir uns nie die Mühe machen, auf der anderen Seite nach besseren Erklärungen zu suchen.«
    »Is’ mir zu hoch. Kann ich-nich’…«
    Ein lautes Knarren von der Festungsmauer jenseits des Grabens ließ Pala und Nuschel aufhorchen. Von schweren Ketten gehalten, senkte sich die Zugbrücke langsam auf die gegenüberliegende Seite herab. Ein letztes Rumpeln und sie lag einladend vor Palas Füßen.
    Misstrauisch spähte sie in das offene Tor. Da regte sich nichts.
    »Scheinbar gibt es keinen Posten«, raunte Pala dem Nuschel zu und setzte den Fuß auf die Brücke.
    Zögernd überquerte sie den Graben, jeden Moment mit einer von Zittos Überraschungen rechnend. Die Zugbrücke könnte sich endlos dehnen, das Wasser im Burggraben anschwellen, doch nichts dergleichen geschah. Wohlbehalten gelangte sie unter den Torbogen und blieb erleichtert stehen. Hinter dem Durchgang führte ein ansteigender Hohlweg in engem Bogen nach rechts. Er war gepflastert und beiderseits von Büchermauern eingefasst. Pala hätte sich keineswegs gewundert, wenn ihr ein geharnischter Ritter aus der Burg entgegengaloppiert wäre, aber niemand ließ sich blicken.
    »Das kommt mir nicht geheuer vor«, murmelte sie.
    »Mir-auch nich’«, nuschelte es von ihrer Schulter her.
    Pala wünschte, Giuseppe wäre bei ihr. Seufzend setzte sie ihren Aufstieg fort.
    Während sie den Hohlweg entlanglief, streifte ihr Blick die Buchrücken, aus denen die Befestigungen zu beiden Seiten bestanden. Da gab es dünne Fibeln und dicke Folianten, schnöde Schmöker und wissenschaftliche Werke, Romane für Erwachsene wie auch Fabeln und Märchen für Kinder. Die Titel waren für Pala allesamt befremdend, obwohl aus ihnen auch Vertrautes sprach.
     
    Vom Winde verdreht Schabernack –
    Die hohe Kunst des Übermuts
    Die unredliche Geschichte
    Schlafittchen und die sieben Särge
    Die Kunst des Lügens
    Gullis vereisen
     
    Von manchem Buch konnte sie sich nur mühsam losreißen, weswegen sie nur langsam vorankam, doch sie blieb unbehelligt.
    Der Hohlweg mündete schließlich in einem weiteren Tor. Die Dämmerung war nun schon weit fortgeschritten und Schatten, die Pala hilfreich ihre Dienste anboten, gab es zur Genüge. Sie huschte über einen Burghof und suchte in den umstehenden Gebäuden nach einem Eingang. Hoch oben gab es zwar eine Anzahl Fenster, aber von Türen fehlte jede Spur.
    »Zitto hat sich selbst eingeschlossen«, raunte sie dem Nuschel zu.
    »Stille Hasser lieb’n ihr’n Mief«, sinnierte der Zwerg und wollte kurzerhand an dem Gemäuer emporklettern, doch obwohl er im Haus des Schweigens sogar an der Decke Halt gefunden hatte, rutschte er hier immer wieder ab. Nach mehreren erfolglosen Versuchen schüttelte er verärgert den Kopf: »Da kann-ich-nich’ hoch. Die Wand muss mit-ein’m Bann gesichert sein.«
    Pala trat nahe an eine der Mauern heran und blickte zur einzigen Fensterreihe empor, die sich gleich unter dem Dach befand. Noch nie hatte sie sich über die Besteigbarkeit von Büchern den Kopf zerbrochen. Die dicht gepackten Rücken der Wand boten auf albernste Weise entstellte Namen, aber wenig Griffe und Steighilfen. Verdrossen las Pala die Titel, die sich direkt vor ihrer Nase befanden.
     
    Aberwitz und wo der Sinn im Unsinn liegt
    Peterchens Bootsfahrt
    Das Lyzeum der verkohlenden Erinnerungen
    Die Feldlaus und wie man mit ihr leben kann
    Pippi Sparstrumpf –

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