Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte
Pala, wem sie gegenüberstand. Sie straffte die Schultern und sagte: »Dein Name lautet nicht Wahrheit. Du bist die Lüge.«
»Haben wir da womöglich ein ganz kluges Mädchen zu Gast?«, freute sich die Käferspinne, wobei ihre wuselnden Madengreifer ihr, wie es schien, unsichtbare Happen ins sabbernde Maul schaufelten.
Empört deutete Pala zu dem nächstliegenden Kadaver. »Dann hast du also diese armen Geschöpfe da ausgesaugt?«
»Natürlich.«
Das Geständnis weckte Palas Misstrauen. Hatte die Käferspinne nicht gerade behauptet, sie könne niemals schwindeln? Offenbar wollte sie damit genau das Gegenteil ausdrücken: Alles, was sie sagte, war Lüge. Also konnte ihr Eingeständnis, sie würde ihre Beute aussaugen, auch nicht stimmen. Aber wie waren dann das Nuschel, der Wortklauber und die übrigen Opfer der Lüge ausgehöhlt worden? Von der richtigen Beantwortung dieser Frage konnte Palas Leben abhängen. Sie entsann sich zwar einiger unappetitlicher Einzelheiten aus den Büchern über Blutsauger, die sie letztens in der Stadtbücherei gelesen hatte, aber für die dort beschriebenen Verdauungstechniken war die Lüge einfach zu groß und eine andere Methode fiel Pala nicht ein.
»Sag, wie findest du mich?«, fragte jetzt die Lüge, als habe sie gerade ein neues Kostüm anprobiert und sei ehrlich an Palas Meinung interessiert.
»Grässlich.«
»Das erstaunt mich.«
Sie hat also mit meiner Antwort gerechnet, übersetzte Pala für sich die Lüge der Lüge. »Aber du scheinst damit nicht zufrieden zu sein.«
»Ich hatte gehofft, du würdest ein wenig mehr aufleben, wenn du mich siehst. Vielleicht sollte ich besser wieder in mein Nest hinaufsteigen, anstatt hier weiter mit dir meine Zeit zu verplempern.«
Schlagartig war Pala klar, wie die Lüge ihre Opfer tötete: Sie erschreckte sie mit ihrer alles Maß sprengenden Abscheulichkeit zu Tode. Sogar als Schattenriss konnte sie schwache Gemüter noch in den Wahnsinn treiben. Mittlerweile schien auch der Käferspinne aufgegangen zu sein, weshalb sie versagt hatte und – das zeigten zweifelsfrei ihre letzten Worte – wie sie diesen Fehler wieder ausbügeln konnte. Besorgt blickte Pala zum Himmel empor. Die Wolken kehrten zurück. Wenn ihr nicht schnell etwas einfiel, dann würde die Lüge sich wieder aufblähen und die Wirkung ihrer tödlichen Erscheinung ohne grellen Hintergrund voll entfalten können. Schon reckten sich einige ihrer hakenbewehrten Beine zur linken Felswand hin…
»Einen Moment noch!«, rief Pala.
Die Lüge hielt inne. »Ja?«
»Da gibt es noch etwas, das du mir erklären musst. Meiner Meinung nach bist du gar nicht diejenige, für die du dich ausgibst.«
»Du langweilst mich.«
Sie ist angespannt, kehrte Pala den Schwindel für sich um. »Keine deiner Feststellungen stimmt, abgesehen von Fragen oder Vermutungen, wo du dich nicht festlegen musst. Du seist die Lüge, hast du mir auf deine Weise erklärt, weil du niemals die Wahrheit sagst.«
»Was sollen diese Wiederholungen?«
»Ich wollte nur sichergehen, ob du dich wirklich selbst betrügst.«
»Was?«, empörte sich die Lüge. »Hat man so was schon gehört? Derlei Liebenswürdigkeiten sind ja mal was ganz Altes.«
»Tut mir Leid, aber manchmal ist selbst die Wahrheit grässlich. Genau genommen bist du nämlich die Wahrheit.«
Die Lüge kehrte wieder in die Mitte der Kluft zurück und starrte Pala aus der Mehrzahl ihrer Augen finster an. »Das ist eine niederträchtige Wahrheit!«, keuchte sie.
»Ja, genau. Indem du immer lügst, braucht man deine Worte nur umzudrehen, um die Wahrheit zu hören. Wenn zwei sich verstehen, bedeutet es doch auch nichts anderes als die Übereinkunft auf einen gemeinsamen Wortschatz. Unser Ja mag sich in einer anderen Sprache wie ein Nein anhören. Nicht die Laute sorgen also für Verständnis, sondern die Einigung auf ihre Bedeutung. Und deine Äußerungen bedeuten einfach immer genau das Gegenteil deiner Worte. Somit bist du gar nicht die Lüge, weil du immer die Wahrheit sprichst.«
Die Käferspinne begann auf beängstigende Weise zu zittern. Aus ihrem Maul troff schleimiger Geifer. »Was redest du da? Habe ich nicht selbst gesagt, es läge in meiner Natur, niemals zu lügen? Ich sei die Wahrheit? Nun dreh meine Worte um. Bin ich dann etwa nicht die Lüge, die niemals die Wahrheit spricht?«
»Nein.«
»Nein?«
»Wäre es wirklich so, würdest du ja immer die Wahrheit sagen, nur in umgedrehten Worten. Wenn du aber nicht gelogen hast, dann
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