Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte
stimmt deine Behauptung, du seist die Wahrheit und es wäre gänzlich wider deine Natur zu lügen. Finde dich damit ab, du bist nicht die Lüge, sondern die Wahrheit.«
Pala hatte die Lüge in eine ernste Notlage geredet. Verzweifelt kämpften die Gedanken der Käferspinne gegen den Widerspruch zwischen dem, was sie bisher gewesen zu sein glaubte, und dem, was sie scheinbar wirklich war. Es wollte ihr einfach nicht gelingen, einen Ausweg aus dieser Zwickmühle zu finden. Ihre zahlreichen Beine zitterten immer stärker. Einige schwächere Gliedmaßen knickten kraftlos ein. Zwischen den Panzerplatten ihres Kopfes trat ein milchig gelber Schleim hervor. Aber noch war sie nicht besiegt, noch konnte sie in die Felswand fliehen und mit ihrer ganzen Schrecklichkeit zurückschlagen…
Aufseiten Palas war schnelles, entschlossenes Handeln vonnöten. Mit ihrer bisherigen Einschätzung der Lüge hatte sie zwar richtig gelegen, aber sie konnte ihre eigene Haut nur retten, wenn auch die restlichen Vermutungen stimmten. Blitzschnell trat sie auf die Käferspinne zu, vier, fünf, sechs schnelle Schritte – dann zermalmte sie die Lüge unter ihrer Ferse.
»I-gitt!«, stieß Pala hervor, als sie das Knacken des Lügenpanzers hörte. Nie zuvor hatte sie einem Tier etwas Derartiges angetan. Rasch zog sie sich von dem zermatschten mistkäfergroßen Kadaver zurück und wischte ihre Fußsohle immer wieder am Boden ab. Dabei haftete ihr Blick auf dem hässlichen Fleck, der einmal die Lüge gewesen war.
»Wir hab’n sie umgebracht!«, jubilierte Nuschel und kletterte aus seinem haarigen Versteck auf Palas Schulter zurück.
»Wir?«
»Gute Idee, ihr auf die Pelle zu rück’n, Pala.«
»Danke.«
»Wie bis’ du nur da draufgekomm’n?«
»Mir war auf einmal klar geworden, diese Begegnung konnte auch nur ein Rätsel sein. Es lautet: Wie kann man die Lüge besiegen?«
»Indem-man sie zertramp’lt?«
»Nun ja, in gewisser Weise schon. Die Lüge mag einen zu Tode erschrecken, so lange man ihr nicht mutig entgegentritt, aber wenn man das wagt, wird sie jämmerlich klein und kann zertreten werden.«
»Aber sie hätte doch auch jämmerlich schwach werd’n könn’n oder jämmerlich dünn oder jämmerlich leicht oder…«
»Nicht, nachdem mir aufgegangen ist, wie sie ihre Opfer in leere Hüllen verwandelt. Anfangs dachte ich, sie benutzt irgendeinen Rüssel, um sie auszusaugen, aber wie hätte sie damit die Knochen herausbekommen können? Nein, wenn die Lüge immer kleiner wird, je näher sie ihrer Beute kommt, dann konnte sie es nur wie jene Insekten anstellen, von denen ich neulich gelesen habe. Sie ist in sie hineingekrochen, hat sie vermutlich mit ihrem Sabberschleim vorverdaut und dann genüsslich ausgeschlürft.«
»Aufhören! Sofort aufhören!«, schrie das Nuschel und hielt sich die Ohren zu.
»Ich dachte, du wolltest wissen, wie die Lüge ihren Fang aushöhlt. Na, jedenfalls war mir klar, wodurch ich sie besiegen kann. Ich musste nur meine Furcht überwinden und ihr auf den Pelz rücken.«
»Auf die Schale, meinst du.«
»Das spielt nun keine Rolle mehr, Nuschel. Wir haben ihren Lügenpanzer geknackt wie eine rostige Rüstung. Ihre ganze Gefährlichkeit beruhte auf einem Trugbild im Geist ihrer Beute, auf einem dort geschickt eingepflanzten Irrtum. Und wie sagte das Wandgedicht im Haus des Schweigens doch so treffend? Der Irrtum steht auf Zweifels morschem Wappen.«
Der Irrtum steht auf Zweifels morschem Wappen,
was seine Rüstung einzig kann, ist rosten.
Davon befreit, winkt Sieg dem wachen Posten,
der, leicht und stark, wird nicht zusammenklappen.
Erstarkt der Schwache, muss er nicht berappen,
was falsche Sorgen jene Zweifler kosten,
die zaudern, ob im Westen oder Osten,
bis durstig sie durch Wüstenstriche trappen.
Die Einigung sucht man in Kompromissen,
kann damit nur für kurze Zeit erreichen
den Frieden und ein besseres Gewissen.
Die Zwietracht kann auf Dauer nicht ganz weichen,
solang Vertrau’n wird rücksichtslos verschlissen.
Die Klugen selbst in Not seh’n Hoffnungszeichen.
Der Irrtum steht auf Zweifels morschem Wappen, weil man sich ohne feste Überzeugung von Bedenken und allerlei Lügen leicht wie eine Meereswoge vom Sturm hierhin und dorthin treiben lässt. Mama, Papa und Nonno Gaspare haben mir immer dabei geholfen, mich in der Welt zurechtzufinden. Sie brachten mir bei, was richtig und falsch, was gut und was böse ist.« Palas Erklärung galt der letzten Frage ihres
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