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Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte

Titel: Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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bedrohlich wie der Schlund eines Vulkans und mannigfaltig wie Muscheln am Strand. Nie hatte Pala ein solches Rügenfeuerwerk erlebt. Zumindest mit Worten war Zitto ein Zauberer: Er machte in kürzester Zeit die Schabe zur Schnecke.
    Während der Maßregelung erhielt Pala hinreichend Gelegenheit den Schlossherrn zu betrachten. Er musste uralt sein, war gleichwohl temperamentvoll, etwas hölzern und dennoch beweglich, von großer hagerer Statur sowie – abgesehen von einem schneeweißen Kranz langer, dünner, ungepflegt herabhängender Haare – kahl. Seine Augen strahlten wie blaues Gletschereis. Nicht Haut, sondern Pergament schien seinen schmalen Schädel faltenreich zu umkleiden, gelb, wächsern und durchscheinend, dunkle Adern hoben sich darunter ab. Wie eine Klippe ragte aus dieser mumienhaften Maske eine messerscharfe, gebogene Nase hervor. Die Lippen waren bindfadendünn, blau und blass. Seine zerklüfteten Ohren fielen wegen ihrer Größe auf, vor allem die Ohrläppchen, die eher Lappen glichen. Gleichwohl war er mit einer klangvollen Stimme gesegnet, die weder zu seinem Äußeren noch zu seinen Drohungen passen wollte. Der ihn umschlackernde tiefblaue Mantel glitzerte und glänzte in dem gelben Lampenlicht wie der Sternenhimmel. Man hätte ihn auch als »Wortgewand« bezeichnen können, denn das Funkeln kam von den aufgestickten Schriftzeichen, manche aus Gold, andere aus Edelsteinen; ihr Sinn blieb Pala verborgen. Der breite Kragen des knöchellangen Mantels war mit flauschigem Nuschelfell besetzt.
    »Und nun zu Ihr«, sagte Zitto, nachdem er Jambus zusammengestaucht hatte. Mit wallendem Gewand, den Kopf wie unter einer niedrigen Tunneldecke eingezogen, durchmaß er sein Arbeitszimmer, ließ eine große knöchrige Hand aus den nachtblauen Falten seines Ärmels schnellen und schnappte sich die beiden Pergamente. Das oberste verstaute er unter einem ledernen Aktendeckel, den er mit einem dicken R aus Messing beschwerte. Von dem geheimnisvollen zweiten Gedicht wollte er sich offenbar nicht so schnell trennen. Er drückte es wie den seidenen Schal einer verlorenen Geliebten an seine Brust, streichelte es liebevoll und wirkte mit einem Mal sonderbar gelöst. Als er um den Schreibtisch herumkam, lächelte er sogar. »Herzlich willkommen auf Unserem Schloss, Pala. Alle Achtung, Sie hat sich wacker geschlagen. Ein bisschen ramponiert kommt Sie Uns vor.«
    Pala wich auf die gegenüberliegende Seite des Möbels aus, wobei sie verlegen an sich herabblickte. Einige Mängel ließen sich da schon ausmachen: zottige Haare, ein zerrissenes, schlammbespritztes Kleid, zerschrammte Arme und Beine sowie vor Schmutz starrende Füße – wie ein Burgfräulein sah sie wirklich nicht aus. Doch davon wollte sie sich nicht beirren lassen. Sie musste endlich Klarheit in ihre dunklen Ahnungen bringen.
    »Also kennen Sie mich tatsächlich.«
    Zitto lächelte wie über einen hübschen kleinen Scherz. Dabei tätschelte er das vergilbte Blatt an seiner Brust. »Selbstredend, kleines Mädchen, selbstredend. Es grenzte schon an ein Verbrechen, wüssten Wir nicht über Sie Bescheid.«
    Pala schnappte nach Luft. »Ausgerechnet Sie reden von Verbrechen? Silencia war einmal ein friedlicher, wunderbarer Ort, in dem Worte blühten wie anderswo die schönsten Blumen. Sie haben daraus eine Wüste gemacht, in der man nur verdursten kann.«
    »Selbst in der Wüste gibt es Leben, kleines Mädchen.«
    Pala schauderte, weil Zitto diesen Umstand auch noch zu bedauern schien. »Was aus Silencia geworden ist, genügt Ihnen wohl noch nicht. Sie wollen den Menschen tatsächlich ihre Sprache rauben, so wie Sie es mit Nonno Gaspare getan haben.«
    Zittos Schultern hüpften auf und nieder. Sichtlich erheitert antwortete er: »Das hat Ihr bestimmt einer dieser brummenden, dünnfingrigen Taugenichtse erzählt, die alles verdrehen. Hier geht es keineswegs um Raub, kleines Mädchen. Die meisten Worte haben die Menschen Uns doch freiwillig gegeben. Diese erbärmlichen Kreaturen konnten es gar nicht abwarten, sie zu verschachern wie ein abgelegtes Gewand. Will Sie die Wahrheit wirklich nicht sehen, wo Sie des Wesens dieser Jämmerlinge mehr als einmal ansichtig wurde? In den Spiegeln…«
    »Tiere!«, hauchte Pala. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Die Erinnerung an die unheimlichen Spiegelbilder ließ sie erschauern. »Sie verwandeln die Menschen in grunzende, quäkende und heulende Tiere…«
    »Sind sie das nicht heute schon?«
    »Vielleicht noch nicht ganz, wenn

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