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Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte

Titel: Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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lassen wir dich leben«, sagte das fünffüßige Monstrum schroff. Es füllte den ganzen Türrahmen aus. Seine beiden Riesenaugen schienen aus hunderten kleinerer zu bestehen. Sie waren vollzählig auf Pala gerichtet. Das Ungeheuer belegte eindrucksvoll Zittos Leidenschaft für Krabbelwesen. Mit nur einem zusätzlichen Bein hätte man es glatt als nahen Verwandten der Küchenschabe ansehen können, wenngleich seinem Kopf nicht wenig von einer Hornisse anhaftete. Die einander überlappenden Platten seines Körperpanzers waren schillernd braun, sein Unterleib spitz, seine vier Libellenflügel durchscheinend, sein zangenbewehrtes Maul Furcht erregend, seine Fühler lang und ständig in Bewegung, seine drei Hinterbeine dünn (das dritte hätte leicht als Schwanz durchgehen können), seine vorderen Gliedmaßen noch dünner und seine Bewaffnung Respekt einflößend. Ja, im Gegensatz zu Wortklaubern, Nuschels und Nörgels sowie sämtlichen anderen Geschöpfen dieses verwunschenen Reiches verfügte dieser fünffüßige Diener Zittos tatsächlich über einen Waffengurt, an dem ein prächtiges Breitschwert, ein langer Dolch und ein Morgenstern baumelten.
    »Ich bin gekommen, um Zitto zu sprechen«, sagte Pala, nachdem sie den Anblick der Schabe einigermaßen verdaut hatte.
    »Darüber entscheidest nicht du. Komm jetzt und verhalte dich friedlich, dann wird dir nichts geschehen.« Die schrill zirpende Stimme der Schlosswache hatte etwas Zikadenhaftes; einem über die Schultafel quietschenden Fingernagel zuzuhören, konnte auch nicht unangenehmer sein.
    Die Schabe gab den Weg frei und Pala trat durch die Tür in einen breiten Gang. Neben ihrem Wächter erwarteten sie dort zwei weitere Schaben. Der Wortführer ging voran, dann kam Pala und hinter ihr folgten die anderen Fünffüßler.
    »Hast du Kotzbrocken auch einen Namen?« Pala biss sich auf die Zunge. Die Spuren des Wortsumpfes hafteten ihr noch immer an.
    Die Antwort der Schabe klang bedrohlich. »Jambus.«
    »Und die anderen beiden?«
    »Sind ebenfalls Fünffüßige Jamben.«
    Pala erinnerte sich des Nuschels. Namen schienen in diesem Reich Mangelware zu sein. »Ich bin Pala, falls euch das interessiert.«
    »Das wissen wir. Und nun sei still, sonst…«
    Jambus sagte nicht, was genau er sich unter »sonst« vorstellte, aber Pala wollte es auch nicht wirklich herausfinden. Sie schwieg und ließ sich von ihrer Eskorte durch die Festung führen. Zunächst ging es treppab – sie hatte Zittos Heim ja im obersten Stockwerk betreten. Ebenerdig, wie Pala vermutete, klapperten die Schaben durch mehrere Flure, bis sie in einem Gemach mit kahlen Wänden und einer schweren, eisenbeschlagenen Holztür stehen blieben. Jambus bedeutete Pala zu warten, wies sie noch einmal auf ihre Pflichten als Gefangene hin und entfernte sich.
    Die beiden anderen Jamben hefteten ihre Facettenaugen auf das Mädchen und taten ansonsten so, als wären sie nur Standbilder ihrer selbst. Am liebsten hätte sich Pala in Luft aufgelöst. Jede hastige Bewegung vermeidend, sah sie sich in dem Zimmer um. Drei seiner Wände waren, ebenso wie Fußboden und Decke, aus Büchern mit seltsam vertrauten Titeln gefügt.
     
    Das hässliche Hemdlein
    Siebzehn Techniken zur Verhandlung mit Drachen
    Die Blechhummel
    Das letzte Nashorn
    Die Reitmaschine
    Der Treppenwolf
     
    Die vierte Wand bestand aus geglätteten Steinquadern. In sie war die bereits erwähnte Tür eingelassen. Es musste sich um den Zugang zum Turm, dem einzigen nicht zerfallenen Teil der Festung, handeln. Über der Tür befand sich ein in den Fels gemeißelter Schriftzug, doch ehe Pala die stark verwitterten Buchstaben entziffern konnte, kehrte Jambus zurück.
    Die Schabe trug eine brennende Fackel in der rechten Vorderklaue und sagte: »Du hast Glück. Ihre Hoheit wird gleich erscheinen und dir die Ehre einer Audienz erweisen. Folge mir.«
    Hoheit?, rief in Palas Kopf spöttisch jene Stimme, die dort seit einiger Zeit hauste und sich oft im unpassendsten Augenblick meldete. Jetzt führt sich dieser Größenwahnsinnige auch noch als Mann von Adel auf. Wo soll das nur hinführen?
    Das Mädchen folgte schweigend dem Jambus und seiner Fackel. Er stieg eine schmale, dunkle Wendeltreppe hinauf. Die Stufen waren ausgetreten, unterschiedlich hoch und überhaupt wie dazu geschaffen, sich den Hals zu brechen. Hinter Pala schrappten die gepanzerten sechs Füße der beiden anderen Wächter über den Stein. Ab und zu kam die Eskorte an schmalen Lichtöffnungen

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