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Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte

Titel: Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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an. Das oberste, leicht schräg liegende, war eine alte Handschrift, deren Schriftbild sie an ihr Geburtsgedicht erinnerte. Ihr Herz ging vom versammelten Trab in gestreckten Galopp über.
    Mit einem Stoßseufzer, der glaubhaft ihr Missvergnügen über das lange Warten vortäuschte, trat sie einen Schritt näher an den Tisch heran. Dabei vermied sie es tunlichst, die beiden Pergamente anzusehen. Ihr scheinbar ruheloser Blick war wieder auf Wanderschaft. Erst nach einer Weile legte er wie zufällig auf der Handschrift eine Rast ein. Es handelte sich um ein Sonett und Pala staunte nicht schlecht, als sie die Zeilen zu entziffern begann.
     
    Der Irrtum steht auf Zweifels morschem Wappen,
    was seine Rüstung einzig kann, ist rosten.
    Davon befreit, winkt Sieg dem wachen Posten,
    der, leicht und stark, wird nicht zusammenklappen.
     
    Erstarkt der Schwache, muss er nicht berappen,
    was falsche Sorgen jene Zweifler kosten,
    die zaudern, ob im Westen oder Osten,
    bis durstig sie durch Wüstenstriche trappen.
     
    Die Einigung sucht man in Kompromissen,
    kann damit nur für kurze Zeit erreichen
    den Frieden und ein besseres Gewissen.
     
    Die Zwietracht kann auf Dauer nicht ganz weichen,
    solang Vertraun wird rücksichtslos verschlissen.
    Die Klugen selbst in Not seh’n Hoffnungszeichen.
     
    Pasquale hatte Pala vor einigen Jahren im Zusammenhang mit einem Heiratsantrag erklärt, wie sich ein Stromschlag anfühlt. Jetzt endlich verstand sie ihn. Was immer Giuseppe auch von dem Reigen der Sonette gehalten hatte, die Übereinstimmung der Schlusszeile aus dem Haus des Schweigens mit dem Auftakt jenes handgeschriebenen Gedichts dort auf dem Tisch konnte unmöglich ein Zufall sein. Diese Einsicht zog einen Schweif von Unfassbarkeiten nach sich, die Palas ohnehin schon schwammige Knie restlos aufzuweichen schienen. Schwankend hielt sie sich an der Stuhllehne fest, ließ aber sofort wieder los, weil Jambus einen bedrohlichen Zirplaut von sich gab. Wer anders als Zitto konnte die Spur der miteinander verwobenen Dichtungen ausgelegt haben, die bis zu diesem Schreibtisch führte?
    Erneut ließ ein Schwindel Pala taumeln, denn was aus dieser Ungeheuerlichkeit folgte, erschien ihr unerträglich. Das Gedicht, das sie seit Jahren hinter einer Glasscheibe in ihrem Zimmer bewahrte, war in derselben Handschrift verfasst wie das vor ihr liegende Blatt. Also ging es die ganze Zeit nur um sie, um Mutters Große, denn wer anders als Zitto konnte der freundliche Unbekannte gewesen sein, der einst dem Neugeborenen seine Verse in die Wiege gelegt hatte? Wie bittere Galle stießen Pala nun die Anfangsworte ihres Geburtsgedichtes auf: Erst ganz zum Schluss ist, wer Geduld hat, schlauer.
    Aber warum hatte sich Zitto ausgerechnet sie für sein hinterhältiges Rätselspiel ausgesucht?
    Ein polternder Laut, der jäh durch die Tür des Turmzimmers drang, beendete vorerst Palas Überlegungen. Sie schrak unwillkürlich zusammen, nicht wegen des Rumpelns, sondern weil Jambus überraschend zum Leben erwachte.
    »Rühr dich nicht von der Stelle!«, befahl er, riss die Tür auf und verschwand nach draußen.
    Kaum allein, wurde Palas Blick wieder von den vergilbten Blättern angezogen. Mit Daumen und Zeigefinger nahm sie das oberste Pergament bei einer Ecke und lüpfte es an. Darunter erschien ein weiteres Gedicht, von derselben leidenschaftlichen Hand verewigt wie das erste. Der linke Rand des Blattes war verschmutzt und mehrfach eingerissen. Palas Augen verharrten erstaunt bei der Anfangszeile. Ihr Zögern dauerte einen Moment zu lang. Als sie sich endlich anschickte, den kraftvollen Schwüngen der braunen Tinte weiter zu folgen, gebot eine strenge Stimme ihr Einhalt.
    »Das«, sagte Zitto drohend, »würde ich lieber lassen.«
    Pala zuckte zusammen, das Sonett entglitt ihren Fingern und sie blickte schuldbewusst auf. Keinen Moment zweifelte sie daran, hier den Herrn der Bücherburg vor sich zu haben. Ihre heftige Reaktion schien diesen zu befriedigen, denn nun nahm er sich ausgiebig Zeit seinen Hauptjambus zusammenzustauchen – nicht ohne immer wieder zu Pala hinzublicken, damit diese sich ja nicht rührte.
    Allein Zittos Standpauke zeigte ihr, mit was für einem Meister der Sprache sie es hier zu tun hatte. Es ging darin um Nachlässigkeiten bei der Bewachung von Geiseln wie auch bei der Beleuchtung der Turmtreppe (Zitto musste sich eben fast das Genick gebrochen haben, daher auch das Poltern). Schillernd wie ein Regenbogen waren seine Zurechtweisungen,

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