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Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte

Titel: Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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vorbei. Draußen war längst die Nacht eingekehrt. Schließlich öffnete Jambus wieder eine Tür und deutete in ein schwach erleuchtetes Turmgemach.
    Pala drückte sich an der Schabe vorbei und lief weit in das geräumige Zimmer hinein. Sie staunte nicht schlecht, weniger ob der überraschenden Größe des Raumes – Zitto war ihr ja mittlerweile als Meister der Täuschung bekannt –, als vielmehr wegen der unerwarteten Gemütlichkeit. Bei einem Mann, der so viel Insektenhaftes erschuf, hatte sie eher mit einer trostlosen Wabe gerechnet. Indes war dies ein Arbeitszimmer, das einem großen Dichter und Denker nicht schlecht zu Gesicht gestanden hätte. Palas Füße versanken in einem dicken blaugrundigen Teppich mit goldgelben Buchstabenmotiven. Die schwarzbraune holzgetäfelte Decke wurde von starken Balken getragen. An den Wänden standen überquellende Regale, auf dem Boden ein großer Globus und, vor dem einzigen Fenster, ein mit Büchern und Dokumenten überladener Schreibtisch. Auf dem schweren Möbel verbreitete eine Öllampe mit hohem Glaszylinder ihr warmes, gelbes Licht.
    Jambus zirpte seinen beiden Untergebenen draußen einen schrillen, für Pala gänzlich unverständlichen Befehl zu, worauf sich beide verzogen. Anschließend folgte er ihr in den Raum und blieb reglos bei der Tür stehen. Ein Viertel seines Kopfes war mit Augen besetzt, er konnte also, auch ohne sich den Hals zu verrenken, jeden Winkel des Gemaches überblicken.
    Da Zitto noch auf sich warten ließ, begann Pala unruhig von einem Fuß auf den anderen zu treten. Jambus rührte sich nicht. Ihre Neugier war stärker als die Angst und sie reckte den Hals zum Fenster hin. Die Schabe blieb bewegungslos. Zaghaft wagte das Mädchen einen ersten Schritt. Jambus schien eingeschlafen zu sein. Von draußen ertönte ein leiser Glockenschlag. Mit zitternden Knien schlich Pala durch den Raum, jederzeit damit rechnend, von Zittos Leibwache zurückgepfiffen zu werden, was aber nicht geschah. Das Fenster lag in einer tiefen Nische, welche die Dicke der Turmmauern erkennen ließ. Ein gelblicher Schimmer drang durch das bunte Glas und zog das Mädchen an. Als Pala durch eine einzelne klare Scheibe hinausblickte, traute sie zunächst ihren Augen nicht.
    »Silencia!«, hauchte sie. An zahllosen Abenden hatte sie von den Gassen und Plätzen unten zur Burg hinaufgeschaut und das erleuchtete Fenster des Turmzimmers betrachtet, nun stand sie auf der anderen Seite, inmitten eben jenes gelben Lichts. Die Häuser der Stadt schienen zum Greifen nah. Der Uhrenturm überragte sie alle. Über den Dächern ging gerade der Mond auf.
    Als Pala sich wieder ihrem Bewacher zuwandte, stand ihr die Überraschung ins Gesicht geschrieben. Der Jambus blieb nach wie vor regungslos. Und trotzdem hätte sie schwören können, an der Vorderseite seines Hornissenkopfes ein hämisches Grinsen zu sehen. Im Augenmeer des Fünffüßlers war sie vermutlich nur ein hilfloses kleines Opfer des mächtigen Zitto, ein dummes Ding, das keine Gefahr darstellte. Vielleicht störte ihn deshalb nicht des Mädchens umherschweifender Blick.
    Keineswegs in allen Regalen befanden sich Bücher, Schriftrollen und sauber verschnürte Bündel mit Papieren. Zwischen einigen Böden hingen Kästen mit Glasdeckeln, hinter denen Pala aufgespießte Schmetterlinge, Spinnen und allerlei anderes Krabbelgetier bewundern konnte, fein säuberlich nach Form und Größe sortiert. Auch zahlreiche auf Hochglanz polierte Apparate, die ein wenig an Schiffsinstrumente erinnerten, ließen sich in den Regalen ausmachen. Am auffälligsten waren die messingfarbenen, schraubenbesetzten Ringe, in denen halbrunde Glaskörper wie riesige Lupen schimmerten. Pala meinte darin wuselnde Bilder von silencianischen Straßen und Plätzen samt lebendigen Menschlein zu erkennen, aber angesichts des Fünffüßlers traute sie sich nicht näher an die Bullaugen heran. Andere Maschinen auf den Regalböden besaßen die Gestalt von großen Kästen, aus denen Hebel und eine verwirrende Anzahl von funkelnden Knöpfen ragten – Erstere muteten wie fremdländische Essbestecke an und Letztere glichen kostbaren Juwelen. Palas umherwandernde Augen kehrten zum Schreibtisch zurück, von dem sie nur durch einen massiven Stuhl getrennt war.
    Auf dem enormen Arbeitsmöbel türmten sich Bücher, Schriftrollen, alle möglichen Gegenstände und obenauf, wie achtlos fallen gelassen, zwei vergilbte Blätter. Die Schriftstücke zogen Palas Aufmerksamkeit wie ein Magnet

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