Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte
Leitern.
Wer Wahrheit misst, fühlt sich gleichwohl geborgen,
an Überzeugung arm, doch ohne Sorgen.
Gefängnisleere mag ihn gar erheitern.
Was nie begonnen, kann auch niemals scheitern.
Gedankenlose denken nicht an morgen.
Anstatt zu geben, leben sie vom Borgen
und Kluge stempeln sie zu Außenseitern.
Gefangenschaft von dieser Art kann brechen,
wes Ohr dem Weisen öffnet sich auf Dauer
und ist nicht taub nach nächtelangem Zechen.
Dem Freiheit winkt, ob König oder Bauer,
der kommt, den Wall des Schweigens zu durchstechen,
die Blinden seh’n hier nicht einmal die Mauer.
Des Schweigens Kerker steht so voller Leitern. Was für ein Quatsch!, dachte Pala. Sie konnte keinen einzigen dieser Tritte entdecken. Aber vielleicht war die Quarantäne ja eine besonders strenge Art von Gefängnis, in dem solche Ausbruchshilfen nicht geduldet wurden.
Pala saß in der Abenddämmerung am Fenster der alten Villa und beobachtete durch das Glas die Samen des Löwenzahns, die in Wolken vor der orangeroten Sonne tanzten und die Luft scheinbar zum Brennen brachten. Ihre Gedanken drehten sich um den rätselhaften Begriff: Quarantäne.
Normalerweise bereiteten ihr neue Wortentdeckungen großes Vergnügen, nicht nur wenn sie Buchstabennudelsuppe aß. Mutter betonte gerne, wie früh ihre »Große« mit dem Sprechen begonnen habe. Irgendwann hatte sich Pala vorgenommen, jeden Tag mindestens ein neues Wort zu lernen, dreihundertfünfundsechzig im Jahr, mehr als dreitausendsechshundertfünfzig in ihrem bisherigen Leben. Genauso wie andere Kinder sich am liebsten mit ihrem neuesten Spielzeug beschäftigen, war Pala im Gebrauch ihrer jüngsten Worterrungenschaften nie sehr zurückhaltend gewesen. Als Mutter ihr kürzlich erklärte, »monströs« sei etwas »grässlich Schreckliches«, erlebte Pala einen Tag lang enorm viele schreckliche Dinge. Da krabbelte Nina mit einem muffelnden Windelpo an den Frühstückstisch und ihrer großen Schwester kam das monströs vor. Später erschien der gestrenge Studienrat Galvano mit einem monströsen Gesicht zum Unterricht – er hatte sich zweimal beim Rasieren geschnitten. Und am Nachmittag stellte sich ihr auf dem Weg zu Nonno Gaspares Haus ein monströser Hund in den Weg: bellend, mit gefletschten Zähnen und etwa so groß wie eine Ratte.
»Quarantäne« war also Palas neueste Entdeckung. Nach ihrem derzeitigen Kenntnisstand bedeutete das Wort, vierzig Tage lang in einer alten Villa zu wohnen, die am Rande des Krankenhausgeländes stand, seit Jahren schon nicht mehr benutzt worden und mit Schlössern an sämtlichen Türen und Fenstern ausgestattet war. Eilig hatte man zwei Krankenzimmer hergerichtet, um die beiden gefährlichen Patienten dort zu quarantänieren, oder wie immer diese besondere Abart des Einsperrens genannt wurde. Quarantäne hieß aber auch, von Ärzten und Pflegern wie ein rohes Ei behandelt zu werden, erstens, weil im Umgang mit Patienten grundsätzlich eine schonende Behandlung üblich war, und zweitens, weil sich niemand mit dieser monströsen Sprachlosigkeit anstecken wollte. Pala ließen derlei Befürchtungen zwar nicht kalt, aber sie waren keinesfalls ihre größte Sorge. Die galt nach wie vor Nonno Gaspare.
Draußen neigte sich die Sonne dem Horizont entgegen und der stumme Patient mit dem Sonnenbrandgesicht war noch immer nicht zurück. Man werde ihn »gründlich untersuchen«, hatte es geheißen. Gründlich! Eine schlaffe Froschhaut erschien vor Palas innerem Auge. Sie fühlte sich überrumpelt. Man hatte Nonno Gaspare brutal entführt. Er war von vermummten Gestalten in einen Rollstuhl gezerrt und ihr regelrecht entrissen worden. Die beiden geputzten Krankenzimmer befänden sich rechts vom Innenhof, hatte ihr ein Gesicht erklärt, das sich unter einer Art Taucherglocke hinter Glas befand, sie könne sich einen Saal aussuchen. Dann schob man den Großvater davon.
Es war ein beklemmendes Gefühl gewesen, als sie mit einem Mal allein in der viereckigen Empfangshalle der Villa stand. Ihr Ruf nach Mama, Papa und Nina blieb unbeantwortet. Dann entdeckte sie die Inschrift über dem Durchgang zum Innenhof. Ein Schauer lief ihr über den Rücken.
Des Schweigens Kerker steht so voller Leitern.
Wer Wahrheit misst, fühlt sich gleichwohl geborgen,
an Überzeugung arm, doch ohne Sorgen.
Gefängnisleere mag ihn gar erheitern.
Was nie begonnen, kann auch niemals scheitern.
Gedankenlose denken nicht an morgen.
Anstatt zu geben, leben sie vom Borgen
und Kluge
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