Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte
Natürlich kannte sie die Worte auswendig.
Allein die Furcht lässt manche Absicht scheitern,
macht stumm, wo klare Worte sind vonnöten.
Anstatt die Angst mit Vehemenz zu töten,
bringt man nur Tod den fremden Außenseitern.
Sieht er sich selbst fernab von den Begleitern,
mag der Bornierte heftig gar erröten,
erweist sich blind, wo Einsichten sich böten,
verdammt, die Vorurteile zu erweitern.
Dies Unverständnis lässt sich schwerlich fangen,
weil immer wieder es entrinnt auf Gleitern,
auf Eisgrund kalt von Hochmut, Hass und Bangen.
Derlei Gefühle helfen Zwangsarbeitern,
sich stumm zu fügen glühend heißen Zangen.
Des Schweigens Kerker steht so voller Leitern!
Als wären die Worte Wirklichkeit geworden, dachte Pala: Nonno Gaspare sitzt »errötet« in »des Schweigens Kerker«. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Noch nie war ihr die Übereinstimmung der ersten Verszeile mit der letzten ihres Geburtsgedichtes so bewusst geworden wie in diesem Augenblick. Nein, sie durfte sich nicht aus Angst vor der Wahrheit daran hindern lassen, Nonno Gaspare beizustehen. Vielleicht konnte sie sich seine Liebe ja verdienen. Sie musste für ihn eine Leiter finden, über die er wieder aus seinem Kerker des Schweigens entkommen konnte…
»Ich kann mir auf die Schnelle natürlich kein abschließendes Urteil bilden.« Dottore Stefanos Stimme drang wie von weit her in Palas Bewusstsein vor. Blinzelnd sah sie in das besorgte Gesicht des Arztes. Er lächelte auf eine merkwürdig gequälte Weise. »Wir werden ihn durchleuchten, uns jedes einzelne Organ anschauen und vor allem müssen wir sein Gehirn unter die Lupe nehmen…«
In Palas Geist tauchte das Bild eines Frosches auf. Sie hatten ihn kürzlich im Naturkundeunterricht mit einem kleinen scharfen Messer aufgeschlitzt und restlos ausgeräumt. Pasquale musste sich übergeben. Von dem grünen Wasserbewohner blieb am Ende nicht mehr viel übrig. Er landete in einer Mülltonne. Pala schreckte der Gedanke, man könnte mit Nonno Gaspare Ähnliches anstellen.
»Ich möchte mitkommen, wenn Sie ihn ins Krankenhaus bringen«, sagte eine entschlossene Stimme, die zwar aus ihrem Munde kam, aber ihr trotzdem nicht zu gehören schien. Ihr Mut überraschte sie. Natürlich würde Dottore Stefano ihr Gesuch unter Zuhilfenahme irgendeiner fadenscheinigen Begründung abschmettern.
Mit einem seltsam strengen Ausdruck im Gesicht antwortete der Arzt: »Na gut. Wird ohnehin besser sein. Ich vermute, du hast Gaspare angefasst, bevor du zu mir gekommen bist?«
Pala beäugte argwöhnisch die weißen Gummihandschuhe des Doktors. »Angefasst weniger«, erwiderte sie, »aber ich habe ihn geschlagen.«
»Du hast was getan?« Silencias Betagte genossen großen Respekt. Sie zu schlagen gehörte sich einfach nicht. Verständlicherweise war der Arzt erstaunt.
»Ich dachte, er hätte einen Hühnerknochen im Schlund stecken und weil ich ihn nicht, wie man es eigentlich tut, an den Füßen halten und durchschütteln konnte, ist mir nichts Besseres eingefallen, als ihm auf den Rücken zu klopfen.«
»Ach so!« Dottore Stefano schien diese Erklärung als mildernden Umstand gelten zu lassen. Seinem verstehenden Lächeln folgte jedoch gleich wieder jener strenge Blick, der Pala schon zuvor aufgefallen war. »Also dann…«, sagte er und ließ, was immer dann noch folgen sollte, in der Luft hängen.
Pala brauchte Klarheit. Der ausgeweidete Frosch wollte ihr nicht aus dem Sinn gehen. »Kann ich Nonno Gaspare nun ins Krankenhaus begleiten oder kann ich nicht?«
Dottore Stefanos Gesicht war jetzt nur noch eine versteinerte Maske. Durch seinen Mundschutz sagte er: »Die Frage ist nicht, ob du kannst, mein Kind. Du wirst sogar mitkommen müssen. Denn wenn diese seltsame Verflüchtigung der Worte bei unserem alten Freund hier ansteckend ist, dann könntest du die Krankheit schon in dir tragen. Es tut mir sehr Leid für dich, Pala, aber ich fürchte, wir müssen dich vorerst zusammen mit Gaspare unter Quarantäne stellen.«
Quarantäne? Dieses Wort war neu für Pala. Es klang so bedrohlich. Irgendwie nach Eingesperrtsein. Eben noch hatte sie sich darüber den Kopf zerbrochen, wie sie Nonno Gaspare aus seinem Verlies der Sprachlosigkeit befreien könnte und nun steckte sie selbst in der Patsche. Sie hoffte nur, das Hausgedicht des Geschichtenerzählers irrte sich nicht, wenn es behauptete: Des Schweigens Kerker steht so voller Leitern.
Des Schweigens Kerker steht so voller
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