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Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte

Titel: Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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vertrieben und schiebe nun die Schuld auf Zitto, einen ebenso angesehenen wie für jedermann unerreichbaren Bürger der Stadt. Damit habe Gaspare sich sauber jeder Möglichkeit eines Beweises für seine Anklagen entzogen.
    Zu Pala war der Geschichtenerzähler jedoch immer freundlich gewesen, eben wie ein echter Großvater. Sein langes Leben stand ihm ins Gesicht geschrieben – in diesem Moment mehr als jemals sonst –, aber daraus gleich Altersstarrsinn zu machen, erschien ihr ungerecht. Deshalb konnte sie die Vorwürfe der Erwachsenen auch nicht verstehen. Und was Zitto mit Nonno Gaspares Sprachlosigkeit zu tun haben sollte, wollte ihr erst recht nicht einleuchten.
    Nein, die wirkliche Ursache für die seltsame Verflüchtigung seiner Worte musste eine ganz andere sein, vielleicht sogar eine, die den Menschen zu einfach oder auch zu unbequem erschien, um von ihnen wahrgenommen zu werden. Lieber richteten sie sich auf Lebenszeit im Kerker ihres Irrtums häuslich ein. Bin ich selbst schon zu so einer Gefangenen geworden?, fragte sich Pala besorgt. Ja, womöglich steht das Tor zur Wahrheit sperrangelweit offen und die Blinden seh’n hier nicht einmal die Mauer.

 
     
     
Die Blinden seh’n hier nicht einmal die Mauer,
im Dunkeln tappen hin und her und tasten.
Sie woll’n die freie Rede noch verknasten,
damit ihr trübes Leben wird noch grauer.
 
Bald taugst du nur noch für den Knochenhauer,
wenn du im Haus des Schweigens kannst nur fasten.
Bevor zuletzt du liegst im Totenkasten,
entzieht’s dir Lebensworte, süß wie sauer.
 
Was du vermisst, wird and’re Geister laben,
sie tragen fort, was passt auf ihre Hauer,
und mästen sich gleich fetten Küchenschaben.
 
Wie Wüstensand getränkt mit Regenschauer
zählt Sinneslust zu trügerischen Gaben:
Sind Wonnen süß, ist kurz meist ihre Dauer.

 
    Die Blinden seh’n hier nicht einmal die Mauer. »Wirklich komisch!«, sagte Pala und stieß einen verunglückten Lacher aus. »Sieht ganz so aus, als wäre ich damit gemeint.«
    Zittos Feste hob sich im Mondlicht fahl vom Nachthimmel ab. Sie fühlte sich nicht wohl in ihrer Haut, aber sie musste herausfinden, was Nonno Gaspares Zeichnungen bedeuteten. Deshalb hatte sie sich kurz vor Mitternacht aus der Villa des Schweigens gestohlen.
    Vorbei an Marios Wachstube – der Pfleger hatte friedlich vor sich hin geschnarcht, als wolle er sämtliche Bäume des Krankenhausparks absägen –, war sie durch die Empfangshalle geschlichen und an der verschlossenen Eingangstür gescheitert. Sie musste umkehren und sich einen anderen Weg suchen. Dabei streifte ihr Blick erneut den Wandspruch, dessen Schlusszeile ihr nicht aus dem Kopf gehen wollte. Nach kurzem Suchen fand sie im obersten Stockwerk an der Rückseite des Gebäudes ein Fenster mit einem beschädigten Schloss. Dort kletterte sie hinaus, an der stuckverzierten Fassade hinab und entschwand in die Schatten des Parks.
    Während sie jetzt durch die dunklen Gassen schlich, musste sie, abgesehen von dem sonderbaren Wandspruch, an Mario, den jungen Krankenpfleger, denken. Er hatte als Erster diesen Namen erwähnt: Villa des Schweigens. Bevor der Pfleger zur Nachtruhe in seine Wachstube bei der Empfangshalle verschwunden war, hatte Pala ihn auf die für ein Hospital doch recht seltsame Widmung angesprochen. Das Sonett sei, wie Mario erklärte, eigentlich ein Geburtsgedicht. Es gehöre dem Stifter dieser Krankenanstalt, einem vor langer Zeit überaus geachteten Schriftsteller. Von ihm stamme auch der Name, Villa des Schweigens, der nun eine ganz neue Bedeutung bekommen habe.
    Pala fragte sich, ob die seltsame Verflüchtigung der Worte bald auch sie verstummen lassen würde. Ihr Blick wanderte unwillkürlich die Anhöhe hinauf, auf der etwas zu schlummern schien, für das der Begriff »monströs« wie geschaffen war. Nur etwas »grässlich Schreckliches« konnte einem Menschen die Sprache rauben. Vorausgesetzt, Nonno Gaspare hatte Recht.
    Hoch oben im viereckigen Turm, dem einzigen Teil der Feste, der die Jahrhunderte so gut wie unbeschadet überdauert hatte, brannte ein gelbes Licht. Es gab Gerüchte, Zitto sei bereits dort eingezogen, um den Wiederaufbau der Burg persönlich zu überwachen, aber da ihn niemand je zu Gesicht bekam, mochte man von dem Gerede halten, was man wollte.
    Hätte jemand in diesem Augenblick das herumschleichende Mädchen nach dem Zweck seines nächtlichen Spaziergangs gefragt, wäre es wohl zu keiner überzeugenden Auskunft fähig gewesen. Nonno

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