Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte
wenigstens aufgeschlitzt
und mit großer Gründlichkeit ausgenommen. Aber jetzt waren Nonno Gaspare und sie schon zu Stubenfliegen verkommen, die man mit einer großen Klatsche gleich paarweise erschlug. Wo sollte das noch hinführen! Voller Mitleid blickte sie in das Gesicht ihres stillen Freundes. Fast hätte man glauben können, er sei in den letzten paar Stunden um zehn Jahre gealtert. »Haben die Doktoren sonst noch etwas über meinen Freund herausgefunden?«
»Ja, die Ursache für die Rötung in seinem Gesicht: Herr Oratore scheint gestochen worden zu sein.«
»Etwa von einem Insekt?«
»Es scheint eher ein ganzer Schwarm gewesen zu sein. Durch die Schwellung sind die vielen winzigen Stiche nur schwer zu erkennen. Vermutlich hat der Ärmste seine Krankheit den kleinen Blutsaugern zu verdanken.«
»Ist das alles, was die Ärzte dazu sagen können?«
»Nein, sie haben ihm auch verschiedene Zeitungen und Bücher gezeigt und sagen, er könne keine geschriebenen Worte mehr verstehen.«
»Und um das festzustellen haben sie beinahe vier Stunden gebraucht?«
Mario zuckte die Achseln. »Sie sind eben gründlich gewesen.«
Pala schluckte eine bissige Bemerkung hinunter. Sie hatte eine Idee. »Können Sie mir bitte Papier und einen Stift besorgen?«
Der Lockenkopf nickte. »Klar. Ich selbst darf zwar ab sofort die Villa des Schweigens nicht mehr verlassen, aber ich lasse dir etwas bringen. Was den Alten betrifft, würde ich mir allerdings keine zu großen Hoffnungen machen. Die Ärzte sagen, was immer ihm fehle, es sei ziemlich ernst, aber solange sie nicht wüssten, was diese seltsame Verflüchtigung der Worte verursacht habe, könnten sie kaum etwas für ihn tun.«
Pala blickte nachdenklich in das Gesicht des Krankenpflegers und antwortete: »Ich bin kein Arzt, sondern nur Nonno Gaspares Freundin. Vielleicht kann so eine wie ich ihm ja mehr helfen als tausend studierte Köpfe.«
Die Farbe an den Wänden war größtenteils abgeblättert. Unter der Decke kämpfte eine nackte Glühlampe gegen die Dunkelheit in dem großen Krankenzimmer. Als wolle er in diesem Wettstreit aufseiten des Schwächeren Partei ergreifen, sandte der Mond sein silbriges Licht durch die drei hohen Rundbogenfenster herein.
Pala beobachtete mit angehaltenem Atem, wie Nonno Gaspares runzelige Hand den Stift über das Papier wandern ließ. Er war ein begnadeter Geschichtenerzähler, wortgewandt wie kein anderer, den sie kannte. Aber seine Zeichnungen sahen aus, als stammten sie von Nina.
Vielleicht war Palas Beurteilung der kleinen Kunstwerke ein wenig zu streng. Es kam ja nicht unbedingt auf deren künstlerische Ausdruckskraft an. Pala musste nur verstehen, was er malte.
Aber gerade das fiel ihr so schwer.
Der Einfall, sich mit Nonno Gaspare mittels kleiner Bildchen zu verständigen, war im Grunde famos. Es schien zu gelingen. Entmutigend war für Pala nur der eher einsilbige Verlauf des »Gesprächs«. Ihr Freund »sagte« immer wieder dasselbe: Der neue Bewohner des Festungsberges von Silencia ist an allem schuld.
Pala hatte aus den Gesprächen ihrer Eltern schon einiges über Zitto erfahren. In Silencia geboren, ging dieser vor langer Zeit in die Fremde, machte dort ein Vermögen und kehrte nun als steinreicher Mann in die Heimatstadt zurück, um seinen Wohlstand mit deren Bewohnern zu teilen. Seine Fabriken, Handelshäuser, Banken und vielen anderen Firmen kannte man in der ganzen Welt. Aber den Gründer und Eigentümer des Ganzen hatte noch nie ein Mensch gesehen.
Nun, möglicherweise gab es ja einige enge Mitarbeiter, denen er hier und da die Gnade seines Anblickes gewährte, aber die wenigen Beschreibungen derer, die behaupteten Zitto persönlich zu kennen, gingen sehr weit auseinander; man konnte glauben, sie sprächen von unterschiedlichen Männern. Als Nonno Gaspare letztens vom Weggang seines ältesten Sohnes erzählt hatte, klang es düster und verbittert. »Jeder will diesen Zitto kennen, um sich wichtig zu machen«, hatte er gebrummt. »Aber in Wirklichkeit hat er kein Gesicht. Er ist einfach überall gegenwärtig, hat bei allem seine Finger im Spiel. Man hofiert ihn, weil er Posten und Geld verteilt. Ohne ihn scheint nichts zu gehen und wer sich ihm verweigert, wird im besten Fall ausgelacht; viel eher noch verspottet und angegriffen.«
Diese harte Einschätzung hatte Pala damals nicht nachvollziehen können. Ihre Eltern meinten, Gaspare Oratore habe seine drei Söhne mit seinem Altersstarrsinn aus Silencia
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