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Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte

Titel: Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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stempeln sie zu Außenseitern.
     
    Gefangenschaft von dieser Art kann brechen,
    wes Ohr dem Weisen öffnet sich auf Dauer
    und ist nicht taub nach nächtelangem Zechen.
     
    Dem Freiheit winkt, ob König oder Bauer,
    der kommt, den Wall des Schweigens zu durchstechen,
    die Blinden seh’n hier nicht einmal die Mauer.
     
    Die Übereinstimmung der ersten Zeile mit dem Schluss von Nonno Gaspares Hausgedicht stimmte sie nachdenklich. Weil derartige Reime in Silencia jedoch so zahlreich waren wie die Muscheln an der nahen Meeresküste, maß Pala diesem Gleichklang keine allzu große Bedeutung bei. Eher schon verwirrte sie die Botschaft in den alten Worten.
    Inzwischen wartete sie wohl schon an die vier Stunden auf den Geschichtenerzähler, unterbrochen nur von einem kurzen Besuch ihrer Eltern, die mit besorgten Gesichtern unter dem verschlossenen Fenster gestanden, einige in guter Absicht ausgebrachte Worte heraufgerufen und ihr müde zugewinkt hatten. Sie konnten die neue Situation wohl noch weniger verstehen als ihre Tochter. Bald waren sie wieder davongezogen. Pala wünschte, sie hätte mit ihnen gehen können. Schon jetzt vermisste sie ihre Familie.
    Ihr Blick schweifte gelangweilt durch das große Krankenzimmer, in das sie hauptsächlich wegen der Aussicht eingezogen war – durch die schmutzigen Sprossenfenster konnte sie den Park des Hospitals und hoch oben Zittos Feste sehen. Früher mochten in dem Saal sechs oder mehr Betten gestanden haben. Jetzt gab es nur ihres: weiß lackiertes Rohr mit Rädern unten dran. Es hatte neben einem Zwilling auf dem Flur gestanden.
    Pala fühlte sich so allein. Ob sie ein wenig mit ihrem Schlafmobil herumfahren sollte, um sich die Wartezeit bis zu Nonno Gaspares Rückkehr zu verkürzen? Gerade wollte sie die Feststeller an den Rollen lösen, als von draußen ein Geräusch erklang. Schritte! Und jemand, der in seltsam überdrehtem Tonfall sprach. Pala lief hinaus ins Atrium, den Innenhof der Villa, von dem sämtliche Zimmer abzweigten. Große Pflanzenkübel aus Terrakotta, ein munter plätschernder Springbrunnen und eine Holzbank luden hier zum Verweilen ein. Aber dafür hatte sie kein Auge. Sie sah nur ihn, Nonno Gaspare. Ihr Herz machte einen Sprung. Hatte etwa er gesprochen?
    Nein, ihr Wunsch zerplatzte wie eine Seifenblase. Der Geschichtenerzähler saß in einem Rollstuhl und ertrug grimmigen Gesichts das Geplapper eines jungen, selig lächelnden, vollständig in Weiß gekleideten und gänzlich unbehelmten Krankenpflegers, der auf Gaspare einredete wie auf einen Schwachsinnigen.
    »Endstation. Alle Mann aussteigen«, verkündete der Pfleger im Ton eines Bahnhofswärters, als er vor Pala zum Stehen kam.
    »Sie haben vergessen zu pfeifen«, sagte diese mit versteinerter Miene.
    Der Pfleger machte ein betroffenes Gesicht, als könne er sich diesen Fehler niemals verzeihen.
    »Nonno Gaspare kann nichts von dem Unsinn verstehen, den Sie da eben von sich gegeben haben, stimmts?«
    Der Ausdruck der Glückseligkeit kehrte auf das Gesicht des Lockenkopfs zurück und er trötete: »Kein Sterbenswörtchen!«
    Pala funkelte den komischen Kauz wütend an. Ob sie wohl stark genug war, ihn zu erwürgen? Besser nicht. In Silencia lernte man schon sehr früh, Unstimmigkeiten mit Worten zu regeln. Sie holte tief Luft und fragte: »Und warum reden Sie dann pausenlos auf ihn ein, als wäre er ein kleines Kind?«
    »Dient alles zu seiner Beruhigung. Die Ärzte sagen, er sei nicht taub. Er habe nur irgendwie seine Worte verloren.«
    »Ach, das ist ja mal was Neues.«
    »Ja, möglicherweise sei in seinem Gehirn das Sprachzentrum verstopft – ich weiß nicht mehr genau, wie der Doktor es erklärt hat. Jedenfalls ist ihm der Zugang zu seinem Wortschatz versperrt.«
    »Als wäre ein Rollladen heruntergefallen und nun steht er im Dunkeln.«
    »Genau!«, freute sich der Pfleger. »Du bist ein helles Köpfchen, Kleine.«
    »Ich heiße Pala.«
    »Klar. Weiß ich doch. Und ich bin Mario. Habe mich freiwillig zu diesem Einsatz gemeldet. Jedenfalls beinahe. Als der Stumme eingeliefert wurde, war ich so dumm ihn anzufassen. Kannst du dir das vorstellen?«
    »Ziemlich gut sogar.«
    »Und nun sei ich auch ein ›Gefährdeter‹, der unter Quarantäne gehöre, haben die Doktoren gesagt und mich hierauf gefragt, ob ich mich eurer nicht gleich als Pfleger annehmen wolle.«
    »Und da haben Sie sich freiwillig gemeldet?«
    »Klar! Warum nicht zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen?«
    Pala schluckte. Frösche wurden

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