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Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte

Titel: Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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quadratischen Platzes ragten Mauern auf, eine davon bildete die Grenze zu Zittos verbotenem Reich. Efeu und verwilderte Rosensträucher herrschten nun wie eine Räuberbande über das einstige Zentrum klösterlichen Lebens. Früher hatten die Nonnen den kleinen Innenhof in einem überdachten Säulengang umrunden können. An der Ostseite fehlte dieser Wetterschutz nun, weil er bei der Erneuerung von Zittos Schutzwall abgerissen worden war. An einigen Stellen türmte sich noch der Schutt. Da, wo Zittos Mauer im rechten Winkel auf das Skriptorium traf, lagen jedoch weder Trümmer noch wucherten dornige Büsche. Ein idealer Platz für Palas Absichten.
    Die besagte Ecke lag auf der anderen Seite des Innenhofs. Um sich das Kleid nicht an den Rosensträuchern zu zerreißen, lief Pala durch den Säulengang, den das sonst so üppig wuchernde Gestrüpp zu meiden schien, vermutlich wegen der schweren, fast nahtlos verlegten Bodenplatten, unter denen manch hoch geachteter Bürger Silencias begraben lag. Der Gedanke, über Tote hinwegzuschreiten, behagte Pala wenig. Endlich erreichte sie die von ihr auserkorene Stelle. Aufmerksam sah sie sich um.
    Über dem Eingang der Klosterschreibstube war ein Schriftzug in die Wand gemeißelt. Palas Augen hatten sich längst an die Dunkelheit gewöhnt und so konnte sie mit einiger Mühe die Worte entziffern.
     
    Die Blinden sehn hier nicht einmal die Mauer,
    im Dunkeln tappen hin und her und tasten.
    Sie wolln die freie Rede noch verknasten,
    damit ihr trübes Leben wird noch grauer.
     
    Bald taugst du nur noch für den Knochenhauer,
    wenn du im Haus des Schweigens kannst nur fasten.
    Bevor zuletzt du liegst im Totenkasten,
    entzieht’s dir Lebensworte, süß wie sauer.
     
    Was du vermisst, wird and’re Geister laben,
    sie tragen fort, was passt auf ihre Hauer,
    und mästen sich gleich fetten Küchenschaben.
     
    Wie Wüstensand getränkt mit Regenschauer
    zählt Sinneslust zu trügerischen Gaben:
    Sind Wonnen süß, ist kurz meist ihre Dauer.
     
    »Seltsam«, murmelte sie, die erste Strophe des Sonetts ganz fest im Blick. Konnte es noch Zufall sein, ständig Gedichten zu begegnen, die sich in ihren Schluss- und Anfangszeilen überschnitten, gerade so, als würden sie sich an den Händen fassen?
    Sie trat bis auf zwei Schritte an die Mauer heran, stemmte die Fäuste in die Seiten und blickte prüfend nach oben. Zwar war es hier dunkel, aber blind umhertappen, wie in dem Sonett behauptet, musste sie nun wirklich nicht. Sie konnte den sie um das Fünf- oder Sechsfache überragenden Steinwall sogar ganz deutlich erkennen.
    Der Verfasser des Gedichts dürfte vermutlich an eine Neumondnacht gedacht haben. Zwischen den grob behauenen Steinen gab es genug Spalten und Vorsprünge, um sicheren Halt zu finden. Selbst mit Mond und Sternen als einzigen Lichtquellen sollte es nicht schwer sein, die Umfriedung zu überklettern. Sie hatte schon ganz andere Hindernisse bewältigt.
    Pala spuckte in die Hände und machte sich an den Aufstieg. Sie kam gut voran. »Wenn Eichhörnchen Geschichten erzählen und Rätsel lösen könnten, dann wärst du eines«, pflegte ihr Vater des Öfteren zu sagen. Ihr Mut blieb ungebrochen, bis sie, wie sie glaubte, die Hälfte der Umfriedung erklommen hatte. Sie blickte in die Höhe und stutzte. Das obere Ende der Mauer war allem Anschein nach immer noch genauso weit entfernt wie zu Beginn, aber der Boden lag so tief unter ihr, als hätte sie ihr Ziel längst erreicht.
    »Das gibt’s doch nicht!«, entfuhr es Pala. Mit einem Mal spürte sie die Anstrengung und rang nach Atem. Vielleicht spielte das Zwielicht der flimmernden Himmelskörper ihr diesen Streich. Sie schüttelte heftig den Kopf, schleuderte die dumpfen Ahnungen förmlich davon und setzte verbissen ihren Aufstieg fort. Nachdem sie die halbe Strecke des verbliebenen Stücks bewältigt zu haben meinte, sah sie abermals nach oben und erschrak. Vom Schock ihrer Entdeckung regelrecht betäubt, glitt ihr Fuß ab.
    Ich stürze! Wie ein Blitz zuckte der entsetzliche Gedanke durch Palas Geist. Aber noch fiel sie nicht. Nur an ihren dünnen Fingern hing sie über dem gähnenden Abgrund. Ihre Füße stocherten im Nichts. Sie keuchte, gab einige erstickte Laute von sich. Trotz höchster Gefahr wollte sie sich nicht verraten – vielleicht gab es ja jenseits der Mauer Ohren, die nach verdächtigen Geräuschen lauschten. Es dauerte erschreckend lang, bis sie die von ihr losgetretenen Steine am Grund aufschlagen hörte.
    Am

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