Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte
möglich hinter sich zu lassen.
Auch die Gasse des Silencia-Boten lag wie ausgestorben da, im silbrigen Mondlicht und trüben Schimmer weniger Gaslaternen wand sie sich wie ein erschlagener Lindwurm den Berg hinauf. Dort, wo der Kopf des toten Ungeheuers liegen musste, ragte die Ruine der großen Kirche aus dem Halbdunkel auf. Pala kam sich vor wie das einzige lebende Wesen der Stadt.
Endlich erreichte sie den Vorplatz am Ende der Gasse. Vom teilweisen Einsturz des Klosters vor Jahren lagen noch immer einige schwere Trümmer herum, Gedenksteine ohne Inschriften. Das Gotteshaus ragte zu Schwindel erregender Höhe vor Pala auf. Langsam näherte sie sich dem Eingang.
Sie betrat die Basilika durch ein türloses Portal und hielt ergriffen die Luft an: Über ihr glitzerte der Sternenhimmel wie ein schwarzes, mit Diamanten besticktes Samttuch. Ringsum erhoben sich gewaltige Kirchenmauern, aber das Dach des Gotteshauses war der Himmel selbst. Die große silberne Scheibe des Mondes warf ihr Licht durch ein kreisrundes glasloses Fenster im Ostgiebel. Zu beiden Seiten trennten mächtige Säulen das breite Mittelschiff von den schmaleren Seitenschiffen, die in tiefer Finsternis lagen. Pala wäre am liebsten umgekehrt und davongelaufen, als noch weiter in dieses dunkle Schattenreich einzudringen. Da hörte sie plötzlich ein Geräusch…
Ihre Nackenhaare stellten sich auf und ihr ganzer Rücken kribbelte, als hätte jemand Eiswasser darüber gegossen. Sie konnte gerade noch den Kopf nach links reißen – der Rest ihres Körpers war schon völlig starr – und dabei sah sie die Bewegung.
Der Mond hatte zwischen den Schatten zweier Säulen ein fahles Lichtband gelassen, durch das der Umriss eines – ja, wie sollte sie diese Erscheinung überhaupt nennen? –, eines Wesens flatterte und, laut brummend, gleich wieder in der Dunkelheit verschwand. Pala konnte es nur für einen kurzen Moment sehen. Es glich einem Insekt, besaß schwirrende Flügel, einen plumpen Leib und kurze, im Flug herabbaumelnde Gliedmaßen mit ungewöhnlich langen Krallen an den Hinterbeinen.
»Was war das?«, hauchte sie. Eine Hummel mit Libellenflügeln? Nein, kein Insekt war so groß wie ein Schaf.
Sie kramte aufgeregt in ihrem Gedächtnis: Flughörnchen, Flughunde, Fledermäuse und sogar fliegende Fische fielen ihr ein – aber von Flatterschafen hatte sie noch nie gehört. Doch worum handelte es sich bei diesem brummenden Nachtschwärmer dann?
Reglos lauschte sie in das hohe Kirchenschiff hinein, konnte jedoch kein verdächtiges Geräusch vernehmen. Um sie herum herrschte Stille. Der Mond strahlte wieder ungestört von fliegenden Schafen durch das runde Giebelfenster. Pala schüttelte verdrossen den Kopf. »Du fürchtest dich«, flüsterte sie, »und bildest dir solche Verrücktheiten nur ein. Das ist ganz normal.«
Je länger sie über den flirrenden Schemen nachdachte, desto mehr vernünftige Erklärungen fielen ihr dazu ein. Möglicherweise handelte es sich tatsächlich um eine Hummel oder ein anderes harmloses Insekt. Mit Schattenspielen ließen sich die verblüffendsten Figuren erschaffen. Der richtige Abstand zur Lichtquelle machte aus einer Mücke einen Elefanten, dazu noch die passende Schauergeschichte, und dem Entsetzen stand nichts mehr im Wege. Das Gefährlichste in dieser Ruine dürften Mäuse und Uhus sein, jedenfalls nichts, wovor man sich fürchten musste. Mit festen Schritten lief sie auf den Steinaltar am anderen Ende des Mittelschiffes zu. Einen Moment lang verharrte sie vor dem verwitterten Marmortisch, betrachtete nachdenklich die dort aus dem Stein gemeißelte Inschrift und wandte sich dann nach rechts, wo eine kleine Tür in den Kreuzgang führte.
Zuletzt hatte sie den Innenhof des Klosters vor ungefähr sechs Jahren betreten, also kurz vor ihrer Einschulung und lange vor Ninas Geburt. Ihr innigster Wunsch war zu jener Zeit ein großer Bruder gewesen, möglichst so ein lustiger Bursche wie Giuseppe. Als kleines Mädchen hatte sie immer wie eine Klette an Nonno Gaspares jüngstem Sohn gehangen. Ihm verdankte sie auch ihren ersten Besuch an diesem verwunschenen Ort – so war ihr der Kreuzgang an jenem strahlenden Sommernachmittag vorgekommen. In der Begleitung des schlaksigen Jungen hatte sie keine Furcht gekannt, selbst hier nicht, doch jetzt, als sie nach Jahren in den dunklen Säulenhof zurückkehrte, fühlte sie eine lähmende Beklemmung. Sie wünschte, Giuseppe hielte so wie damals ihre Hand.
An allen vier Seiten des
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