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Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte

Titel: Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Gaspares Anblick habe ihr nicht gefallen, könnte der Versuch einer Antwort lauten, um aber sofort in neuen Erklärungsnotstand zu geraten. Wie sollte sie die beunruhigenden Veränderungen an ihrem Freund beschreiben? Nicht allein seine Stummheit und das gerötete Gesicht ängstigten sie, sondern fast mehr noch jene bedenkliche Schwere, die man ihm ansehen konnte, die seine Schultern und die langen Gliedmaßen bleiern herabhängen ließ, die aus ihm einen dahinsiechenden Greis zu machen schienen, der Pala fremd war. Mit Schaudern erinnerte sie sich des Ausdrucks, mit dem er sie vor dem Zubettgehen angesehen hatte, fast so, als wolle er für immer von ihr Abschied nehmen. Hauptsächlich war es wohl Palas Sorge, vielleicht auch ein unbestimmtes Schuldgefühl, aber kaum ein handfester Plan, der sie aus dem Fenster der Villa hatte klettern lassen, um in Zittos Reich einzudringen.
    Der Festungsberg war von einer hohen, wuchtigen Mauer umgeben. Zitto hatte sie bereits vor seiner Heimkehr wiederherstellen lassen. Sie besaß nur ein einziges, ständig bewachtes Tor am Zitadellenplatz, direkt gegenüber der Stadtbücherei. Von Posten jenseits der Umfriedung oder von Kontrollgängen am äußeren Steinwall entlang wusste Pala nichts. Aber sie musste mit allem rechnen.
    Am liebsten wäre sie umgekehrt. Warum musste es nur so hell sein! Mondlicht und Heimlichkeiten waren wie Hund und Katze – natürliche Feinde. Pala schob ihre nagenden Zweifel beiseite. Hindernisse waren schließlich dazu da, überwunden zu werden. Es gab andere Verbündete als den Vollmond, und diese würden ihr Eindringen in Zittos Reich unterstützen: die Schatten. Nicht an irgendwelche lichtscheuen Bundesgenossen dachte das Mädchen dabei, sondern an die finstersten überhaupt. Pala kannte im weiten Rund der Mauer nur eine einzige Stelle, die zu jeder Tages- und Nachtzeit vor neugierigen Blicken verborgen lag: das verfallene Kloster. Allein der Gedanke an diesen unheimlichen Ort ließ sie schaudern. Ihn ausgerechnet zu dieser Stunde aufzusuchen erschien ihr wie ein Albtraum. Jeder Schritt in Richtung Kloster ließ ihr Herz heftiger schlagen.
    Möglicherweise, dieser Gedanke drängte sich immer stärker in den Vordergrund ihres Bewusstseins, lagen ihre Eltern und Dottore Stefano doch nicht so verkehrt, wenn sie Gaspare selbst die Schuld für seine Stummheit zuschoben. Abgesehen von Primo, den Zittos unwiderstehliches Angebot in die Hauptstadt gelockt hatte, war auch der Abschied von seinen anderen beiden Söhnen alles andere als harmonisch verlaufen. Silvestro, der Zweitälteste, war, wie böse Zungen behaupteten, vor den Launen seines Vaters in die Provinzhauptstadt geflohen, wo er inzwischen als Theaterdirektor große Erfolge feiere. Und Giuseppe, von den drei Brüdern der jüngste und für Pala einst wie ein großer Bruder, war in die Fußstapfen seines alten Herrn getreten. Gaspare musste das Festhalten seines Sohnes an der, wie er es ausdrückte, »brotlosen Kunst des fahrenden Erzählers« furchtbar aufgeregt haben, und so hatten sich die beiden schließlich überworfen…
    Die Gerüchteköche gehörten auch in Silencia zu einer fleißigen Zunft. Pala schüttelte ärgerlich den Kopf. Sie kannte Nonno Gaspare besser. Sein Unglück dem eigenen Versagen zuzuschreiben war natürlich leicht, die Wahrheit herauszufinden dagegen ein wagemutiges und womöglich fruchtloses Unterfangen. Was nie begonnen, kann auch niemals scheitern, hieß es im Geburtsgedicht des Hospitalstifters. Palas Fäuste ballten sich. Nein und nochmals nein, sie wollte sich nicht mit einfachen Erklärungen zufrieden geben, wenn die Verleugnung der Wahrheit der Preis dafür war. Auf die vermeintliche Geborgenheit eines solchen Selbstbetrugs konnte sie gut verzichten.
    Mittlerweile hatte sie unbehelligt den Platz der Dichter erreicht. Das Läutwerk im Kampanile des Rathauses schlug gerade Mitternacht: zunächst viermal hell, dann zählte eine volle, dunkle Glocke bis zwölf. So wie Silencias Herz seit Menschengedenken ruhig und friedlich pulsierte, verkündete auch der Uhrenturm die maßvollen Schritte der Zeit stets im gleichen bedächtigen Takt.
    Die Piazza war menschenleer, die hochlehnigen Korbsessel der Grauköpfe verlassen. Der letzte Glockenschlag des Kampanile verklang und eine bedrückende Friedhofsstille breitete sich wie ein Leichentuch über den Ort, den Pala nur als Inbegriff lärmenden Lebens kannte. Sie beschleunigte ihren Schritt, um das große Schweigen so schnell wie

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