Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte
Sachverhalte geschickt in Bildern ausdrücken. Oder hatte Pala nur gelernt, seine Kritzeleien sicherer zu deuten? Jedenfalls tauschten die beiden wieder Gedanken aus, und das machte den Alten wie das Mädchen glücklich.
Wenn Pala einmal nicht mit Nonno Gaspare und dem Zeichenblock arbeitete, verschlang sie Bücher über die Hieroglyphen der alten Ägypter, die Schriftzeichen der Chinesen und vieles mehr, was sie über die Verständigung zwischen den Menschen zu lesen bekam. Bis in die Gegenwart gab es Völker, für die das Schreiben mit dem Zeichnen von Bildern verbunden war. Vielleicht konnte sie auf diesem Wege Nonno Gaspare die Sprache wiedergeben.
Palas Hunger nach Büchern war unersättlich. Sie gab ihre Wunschlisten an Mario, der reichte sie an ihre Eltern weiter und die durchstöberten die Stadtbücherei für sie. Angeblich, so schrieb ihre Mutter in einem Brief, komme die Oberbibliothekarin aus dem Staunen gar nicht mehr heraus, weil die Stapel ausgeliehener Gedichte, Sagen, Märchen, Romane und gelehrter Werke mit jedem Mal höher würden. Letztens habe die Leiterin der Bücherei vorwurfsvoll gefragt: »Wie können Sie angesichts der furchtbaren Epidemie in der Stadt nur so bedenkenlos der Sprache frönen?«
Frönen. Das Wort begeisterte Pala. Es spiegelte ihre Empfindungen wider, denn sie tat nichts anderes: Sie schwelgte, ging auf in Worten, genoss sie, badete darin… Was als edelmütige Tat für einen Freund begonnen hatte und von der Liebhaberei für Worte getragen wurde, daraus entwickelte sich bei ihr bald eine unstillbare Leidenschaft für die Sprache. Was für ein Wunder sie doch war! Sich mit all ihren verschiedenen Schattierungen zu beschäftigen gab Pala ein Gefühl der Befriedigung. Manche Gedichte rührten sie zu Tränen, sie waren wie goldene Kleinode, die menschliche Empfindungen mit wenigen Worten in unbeschreiblicher Tiefe ausdrücken konnten. Einige Erzählungen ließen in Palas Phantasie ganze Welten erstehen, in die sie sich nächtelang verlor. Die Villa des Schweigens war für die meisten Patienten nur eine wortlose Wüste, für Pala wurde sie eine lebensrettende Oase, weil sie hier zu erahnen begann, was Sprache für sie und für andere Menschen bedeutete.
Je weiter sich ihr Bewusstsein diesem Wunder öffnete, desto größer wurde ihr Schmerz angesichts der Tragödie ihres Freundes. Als die vierzig Tage dauernde Quarantäne zu Ende ging, konnte Nonno Gaspare zwar eine bestimmte Situation oder Beobachtung in Bildern ausdrücken, aber von einer Bilderschrift im Sinne der ägyptischen Hieroglyphen war er noch weit entfernt. Es wollte ihm einfach nicht gelingen, aus seinen Zeichnungen allgemein gültige Symbole zu machen. Der Schlosshügel – sein am häufigsten gezeichnetes Motiv – blieb immer der Berg, auf dem Silencias Burgruine stand. Gaspares Dreieck mit der nach oben gerichteten Spitze wurde nie zu einem Bildzeichen für irgendeinen Berg. Gefühle wie Hunger, Liebe und Hass in Bleistiftstrichen auszudrücken, schaffte der alte Mann nicht einmal ansatzweise. Nur wenn Pala sein Gesicht sah oder das Spiel seiner geschmeidigen Hände beobachtete, konnte sie manchmal erraten, was in ihm vorging.
Diese Betrachtungen bestärkten sie in dem Gefühl, Nonno Gaspares Wortschatz sei ihm nicht wirklich abhanden gekommen, sondern nur in seinem Innern verschüttet. Einen Tag vor ihrer Entlassung wurde sie von Dottore Stefano in der Villa des Schweigens besucht. Er trug einen Anzug, der ihn wie einen Tiefseetaucher aussehen ließ. Unter dem Helm zur Abwehr von Krankheitskeimen klang seine Stimme merkwürdig hohl.
»Könnten Nonno Gaspares Worte gar nicht verloren gegangen, sondern für ihn nur irgendwie unerreichbar geworden sein?«, fragte sie den Arzt.
»Du meinst wie bei einem Klavier, an dem die Tasten und die Saiten zwar vorhanden sind, aber die Mechanik zum Übertragen des Anschlags kaputt ist?«
»Ja, ich glaube, so könnte man es ausdrücken. Ist so etwas möglich?«
Die Hand des Arztes legte sich oben auf den Helm und begann zu kreisen. »Die Frage ist schwer zu beantworten, Pala. Das Gehirn des Menschen erfüllt mich mehr als jedes andere Organ mit Ehrfurcht. Wir verstehen nur wenig von dem, was in ihm vorgeht. Aber nach allem, was wir wissen, beherbergt es etwas, das wir als Sprachzentrum bezeichnen. Bisher haben wir angenommen, die Krankheit schädigte genau diese Region im Gehirn, wenngleich…«
»Sie auch eine andere Ursache haben könnte?«
»Nun ja«, wand sich der
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