Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte
bisher unentdeckten Erreger gefeit zu sein. Ihr Blut sei zu sauer, scherzte Mario, weil die Ärzte auf der Haut aller bisher Erkrankten eine mehr oder weniger große Anzahl von Einstichen entdeckt hatten. Was auch immer der Grund war, Palas Wortschatz blieb unverletzt, obwohl sie bald in einem Haus voller sprachgestörter Menschen lebte. Mit jedem verflossenen Tag der Quarantäne wuchs jedoch ihre Angst, ebenfalls von dem heimtückischen Sprachschwund befallen zu werden.
Um einer Anzahl von Lehrerinnen und Journalistinnen mit Silbenaussetzern Platz zu machen, musste sie in eine Kammer unter das Dach der Villa des Schweigens umziehen. Viel lieber wäre sie endlich nach Hause zurückgekehrt, zu ihrer Familie, die sie während der vierzigtägigen Sperrzeit mehr als alles andere vermisste, aber sie ließ sich nicht vom Heimweh überwältigen und nahm selbst ihre Verbannung ins Dachgeschoss widerspruchslos hin. Tagsüber hielt sie sich sowieso meist bei Nonno Gaspare auf. Dessen Krankensaal bevölkerte unterdessen eine größere Gruppe von Patienten mit Vollwortausfällen, weshalb man ihn ebenfalls in ein kleineres Zimmer verlegt hatte. Es befand sich im zweiten Stockwerk des Quarantänebaus. Der Geschichtenerzähler ertrug den Ortswechsel mit einer gleichgültigen Gelassenheit, die Pala wie eine Selbstaufgabe vorkam. Ihr Freund sah von Tag zu Tag müder aus. Die schreckliche Vorstellung lastete auf ihrem Gemüt, seine Augen könnten sich bald für immer schließen.
Gaspare teilte jetzt seine vier Wände mit einem angesehenen Literaturprofessor, einem vielfach ausgezeichneten Schriftsteller und dem Eigentümer des Silencia-Boten. Während von der Schwellung in seinem Gesicht nur noch eine Unzahl kleiner roter Pünktchen übrig geblieben war, leuchteten die Köpfe seiner Zimmergenossen noch wie rote Laternen. Genau wie er litten sie alle unter vollständigem Sprachverlust. Anscheinend befiel die seltsame Verflüchtigung der Worte hauptsächlich solche Menschen, die beruflich oder privat sehr viel mit Sprache umgingen. Nicht nur Pala war dieser Umstand aufgefallen, der insofern bemerkenswert ist, weil man zunächst eher das Gegenteil erwartet hatte. Der rege Gebrauch von Worten, so die ursprüngliche Annahme der Fachleute, sollte diese im Gedächtnis unlöschbar einbrennen. Wie bei einem Sportler, der seine Muskeln durch tägliche Übungen schwellen lässt, müsste auch die regelmäßig beanspruchte Sprachfähigkeit erstarken. Gaspare Oratore habe sein Leben lang viele Worte gemacht, sei dann aber in ein Loch der erzählerischen Untätigkeit gefallen, die zuletzt in völlige Sprachlosigkeit umgeschlagen sei, mutmaßten die Wissenschaftler. Jetzt versuchten sie verbissen, jedem Neuzugang in der Villa des Schweigens eine Vernachlässigung seines bisher gepflegten Wortschatzes nachzuweisen. Hierzu wurden seitenlange Fragebögen ausgegeben, die jeder Patient, so er denn noch lesen konnte, peinlich genau ausfüllen und dabei sein ganzes Leben preisgeben musste. Kontrolliert und eingesammelt wurden diese Seelenspiegel von Mario und seinen Kollegen – er hatte endlich Unterstützung von weiteren Krankenpflegern bekommen, die in ihren keimabweisenden Schutzanzügen aussahen wie Wesen von einem anderen Stern.
Von Ausfüllblättern wird niemand gesund, dachte sich Pala, schon gar nicht Nonno Gaspare. Aber jemand musste ihm helfen, und zwar dringend. Man konnte beinahe zusehen, wie er verwelkte. Wenn sie nicht schnell eine Möglichkeit fand, ihm neue Lebenskraft zu geben, dann würde er schon bald vertrocknen wie ein alter Olivenbaum, dessen Wurzeln gekappt worden sind. Von solchen Gedanken beschwert, saß sie nach ungefähr dreiwöchiger Quarantäne mit ihrem alten Freund auf der Bank im Innenhof der Villa des Schweigens, auf ihrem Schoß ein gerade eingetroffener Brief ihrer Mutter, und beobachtete wieder einmal die Außerirdischen bei ihrer Schnipseljagd. Abgesehen vom Geknister ihrer Raumanzüge und Geraschel der Formulare herrschte eine bedrückende Stille in dem Gebäude. Den meisten Patienten fehlte kaum mehr als ein Bündel Silben oder Worte, aber nur wenige trauten sich zu sprechen, weil sie fürchteten, dadurch ganz zu verstummen – die Wissenschaftler wollten diese Möglichkeit nicht ausschließen.
Obwohl Pala solche Reaktionen reichlich überspannt vorkamen, blieben sie kein Einzelfall. Der jüngste Brief ihrer Mutter berichtete von ähnlichen Geschehnissen in der Stadt: Vorträge wurden abgesagt;
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