Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte
hatte, aber sie wusste nicht, was.
Als Mutter dann speckummantelte Hühnerbrüstchen mit Salbeiblättern auftischte, verging Pala endgültig der Appetit. Ihr schwirrte der Kopf. Sie konnte nur noch an jenen unheilvollen Hühnerknochen denken, den vermeintlichen Auslöser von Nonno Gaspares Sprachlosigkeit, den es ja nie wirklich gegeben hatte.
»Ich glaube, ich muss spucken«, sagte sie, sprang auf und rannte aus dem Zimmer.
Am nächsten Morgen ging strahlend die Frühsommersonne auf, als könne nichts den wolkenleeren Himmel über Silencia trüben.
Nur Pasquales Gesicht wurde von einem Tiefdruckgebiet beherrscht. Mit düsterer Miene trottete er auf dem Schulweg stumm neben Pala her. Schließlich war sie es, die das Schweigen brach.
»Was ist mit dir? Hat’s dir jetzt etwa auch die Sprache verschlagen?«
»Nö, ist noch alles da.«
»Du bist mir noch böse wegen des Gedichts, stimmt’s?«
»Was du gestern gesagt hast, war nicht sehr nett.«
»Aber es stimmte doch: Nachtigallen zwitschern, tirilieren, meinetwegen pfeifen oder singen sie auch, aber brüllen… ! Sie sind doch keine Löwen.«
»Und das mit den Apfelkisten, die ich für mich behalten soll?«
Pala blickte ihren Freund von der Seite her an. Die Bemerkung über seine in Kisten verpackte Liebe war vielleicht wirklich zu hart gewesen. Andererseits hatte Pasquale nach ihrem Dafürhalten auch noch nie ein so erbärmliches Gedicht geschrieben. Hätte sie ihm etwa das an den Kopf werfen sollen? Sie seufzte. »Tut mir Leid. War nicht so gemeint.«
»Dann könntest du mich ja auch heiraten.«
»Frag mich in zehn Jahren noch mal.«
»Ist gut.«
Sie liefen einige Schritte wortlos nebeneinander her, bevor Pala all ihren Mut zusammennahm und fragte: »Pasquale? Das Gedicht, das andere, meine ich, das dein Vater zu meiner Begrüßung vorgetragen hat, es… klang irgendwie so… ungeschickt. Sei mir bitte nicht böse, aber früher hätte er eine solche Arbeit nicht abgegeben. Was ist los mit euch?«
Pasquale blickte auf seine Schuhe hinab, als gäbe es da etwas ganz und gar Spannendes zu sehen. Sein Schweigen sprach lauter als viele Worte. Pala ahnte ohnehin schon, was passiert war.
»Er ist am Sprachschwund erkrankt, habe ich Recht?«
Der Junge antwortete nicht.
Pala legte ihm den Arm um die Schulter. »Du brauchst nichts zu sagen, Pasquale. Es tut mir sehr Leid um dich und deinen Vater. Wie soll er nur seinem Broterwerb nachgehen, wenn die Sprachlosigkeit noch schlimmer wird?«
»Als Reeder kann er jedenfalls nicht mehr auftreten.«
»Du meinst, als Redner.«
»Hab ich doch gesagt! Jedenfalls sind ihm nur ein paar Worte und zwei oder drei Silben abhanden gekommen. Ich helfe ihm dabei, auch ohne sie weiterzudichten. Na ja, es klingt vielleicht nicht mehr so wie früher, aber es ist allemal besser, als entdeckt und eingesperrt zu werden. Verhungern werden wir nicht, wenn…«
»Ich euch nicht verrate, willst du sagen? Da brauchst du dir keine Sorgen machen. Gegen die seltsame Verflüchtigung der Worte kann sowieso keine Quarantäne etwas ausrichten. Man muss das Übel an der Wurzel packen.«
Nach dem Mittagessen lief Pala ins Krankenhaus und besuchte Nonno Gaspare. Sie durfte ihn jetzt nicht im Stich lassen. Nur wenn sie weiter mit ihm sprach – auf welche Weise auch immer –, konnte sie seinen Lebensmut wach halten.
Aus den nachmittäglichen Besuchen in der Villa des Schweigens wurde schnell eine Gewohnheit, der sie mit großer Regelmäßigkeit nachging. Streng genommen stand der alte Geschichtenerzähler zwar nicht mehr unter Quarantäne, aber ihren »ersten Sprachschwund« wollten die Mediziner nicht so schnell aus den Fingern lassen.
Palas Methode der Verständigung durch Bilder hatte dank Dottore Stefanos Vermittlung die Aufmerksamkeit einiger Wissenschaftler erregt. Nun begann man auch den anderen Verstummten Zeichenblöcke und Malstifte zu verschreiben. Ausgehend von dieser Behandlung entstand die Idee, den Wortlosen die Taubstummensprache beizubringen. Alsbald begann ein straffes Schulungsprogramm, bestehend aus zwei Unterrichtsstunden vormittags und einer weiteren Doppellektion am Nachmittag.
Rückschläge blieben auch bei dieser Heilbehandlung nicht aus. Sobald man ein Wort aus Buchstaben zusammensetzen musste, für die es eigene Fingerstellungen gab, versagten der Geschichtenerzähler und die anderen Patienten. Sie konnten solche Begriffe weder selbst ausdrücken noch sie verstehen. Auch zu Verallgemeinerungen waren sie,
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