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Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte

Titel: Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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ich gar nicht. Aber deine Apfelkisten kannst du trotzdem für dich behalten.«
    »Unsere Große hat Schlimmes durchgemacht in den letzten Wochen«, sagte Mutter, um ein Ausufern des Streits zu verhindern. »Wir müssen Rücksicht auf sie nehmen. Und nun lasst uns essen. Die Suppe wird sonst kalt.«
    Während alle die Buchstabensuppe schlürften, blickte Pala verstohlen zu Pasquales Vater hin. Am runden Esstisch war ihm der Platz beim Fenster zugefallen. Sein merkwürdig hölzernes Begrüßungsgedicht wollte ihr nicht aus dem Sinn gehen, ein banger Gedanke ließ sich einfach nicht verscheuchen. Sie suchte eine sichtbare Veränderung an ihm, vielleicht kleine rote Pünktchen in seinem Gesicht. Dergleichen ließ sich nicht entdecken, dafür fiel ihr aber etwas anders auf: In der Fensterscheibe hinter ihm spiegelte sich nicht etwa sein Kopf und Oberkörper, sondern ein Storch.
    Genau genommen handelte es sich um einen Marabu mit einem schwarz-roten, beinahe kahlen Kopf, einem großen, langen, kräftigen, merkwürdigerweise durch eine Schleife am Öffnen gehinderten Schnabel und einem fast nackten Hals mit einem Kropf, der ihm bis weit über die Brust herabschlabberte. Das Trugbild war verblüffend lebendig.
    Pala ließ den Löffel fallen und erlitt einen Hustenanfall. Ein Schwarm helfender Hände stürzte sich auf ihren Rücken.
    »Ich habe doch nicht etwa einen Hühnerknochen dringelassen«, bangte die Mutter.
    Pala schüttelte den Kopf und machte mit den Händen abwehrende Bewegungen, aber die Lebensretter trommelten weiter. »Ist schon gut«, brachte sie endlich hervor. »Hört endlich auf. Mein Rücken tut schon ganz weh. Ich habe mich doch nur verschluckt.«
    »Haben sie dir im Krankenhaus beigebracht, so hastig zu essen?« Die Mutter schien unschlüssig zu sein, ob sie sich darüber freuen oder sich doch besser ärgern sollte.
    »Erschrocken habe ich mich«, stieß Pala ärgerlich hervor. Ihre Hand deutete zum Fenster hin. »Der Storchenvogel da…« Sie verstummte. Im spiegelblanken Glas war nur das Abbild des Gebrauchsdichters zu sehen.
    »Was für ein Storchenvogel?«, fragte jetzt ihr Vater. Er klang besorgt.
    »Ein Marabu. Sein Schnabel war mit einer breiten Schleife zugebunden.« Noch einmal deutete sie auf die betreffende Scheibe. »Da im Fenster habe ich ihn gesehen. Es stimmt wirklich…«
    Selten hatte Pala Stille so eindringlich empfunden wie in diesem Moment. Sie riss sich vom Anblick des ganz und gar normalen Spiegelbildes los und wandte sich wieder der Tafelrunde zu. Niemand am Tisch interessierte sich für die Fensterscheibe. Alle sahen nur das Mädchen an. Keiner glaubte ihm.
    »Meine Große sieht erschöpft aus«, sagte die Mutter.
    »Sie hat bestimmt viel durchgemacht«, fügte der Vater hinzu.
    Pasquale und sein Vater nickten verständnisvoll.
    Um die für sie unerträgliche Situation endlich zu beenden, fischte Pala den Löffel aus der Suppe und begann wieder zu essen. Die anderen wirkten erleichtert und setzten ebenfalls ihr Mahl fort.
    Zwei Trugbilder innerhalb von vierzig Tagen – Pala fragte sich, ob man da schon von einer Besorgnis erregenden Häufung sprechen konnte. Womöglich gaukelte eine tief sitzende Furcht vor dem Sprachschwund ihr diese Sinnestäuschung vor. Sie musste an ihren Tanzbären mit dem Maulkorb denken, an Nonno Gaspare, den sie in der Villa des Schweigens zurückgelassen hatte. Ihr fehlte jeder Antrieb, aus den Nudeln auch nur ein winziges Wörtchen zu bilden. Trübe blickte sie in den Teller, dessen Inhalt mit einem Mal vor ihren Augen verschwamm. Sie blinzelte, aber die Buchstaben konnte sie trotzdem nicht mehr erkennen. Brauchte sie etwa eine Brille?
    »Was ist, Pala?« Ihre besorgte Mutter musste sie genau beobachtet haben.
    »Ich weiß nicht, Mama. Die Buchstaben sind mit einem Mal verschwunden.«
    Alle blickten in ihre Teller. Überall sah die Suppe genauso aus: Keine Buchstaben, sondern nur kleine Nudelklümpchen schwammen in der Brühe.
    »Ich muss mich in der Packung vergriffen haben«, entschuldigte sich die Köchin und sah untröstlich aus. Sie lächelte verlegen. »Dann gibt es heute eben mal keine Wortspiele auf dem Tellerrand.«
    Nina träufelte eine Brühespur am Außenrand ihres Tellers entlang.
    »Die Nudeln schmecken sowieso alle gleich«, schnarrte Pasquale.
    Niemand am Tisch schien die Verwandlung der Buchstaben bemerkt zu haben. Pala blickte fassungslos in die Runde. Irgendetwas war mit diesen Menschen geschehen, die sie vierzig Tage lang vermisst

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