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Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte

Titel: Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Arzt, »völlig ausschließen darf man nichts. Aber wir müssen natürlich zuerst die Möglichkeiten untersuchen, die am wahrscheinlichsten sind.«
    »Wenn man nur nach dem sucht, was man erwartet, kann man dann nicht leicht etwas übersehen, das man gar nicht finden will?«
    Dottore Stefanos dunkle Augen blickten durch die Doppelverglasung – seine Brille und das Bullauge des Helmes – missbilligend auf das wissbegierige Kind. »So eine Frage gehört sich für dich nicht«, hallte seine Stimme tadelnd aus dem Helm. »Du bist nur ein Schulmädchen, aber an der Erforschung des Sprachschwunds arbeiten die gescheitesten Köpfe, die es gibt. Du kannst die seltsame Verflüchtigung der Worte ruhig uns überlassen. Wir haben alles im Griff.«
    Die Krankenhausleitung und ein Heer von »gescheiten Köpfen« bestand peinlich genau auf der Einhaltung der Quarantäne. Also durfte Pala erst am Nachmittag nach Hause gehen, auf die Sekunde zur gleichen Uhrzeit wie bei ihrer Einlieferung vor vierzig Tagen. Obwohl sie nach so langem Eingesperrtsein den kurzen Nachhauseweg auch gerne gelaufen wäre, holte ihr Vater sie mit dem Motorroller ab.
    Ein für die Jahreszeit ungewöhnlich kühler Wind pfiff ihr durch das dünne Kleid. Mit steif gefrorenen Gliedern stieg sie in der Alexandrinergasse vom Sitz, wo sie ein warmer Empfang erwartete. Alle Hausbewohner hatten sich auf der Straße versammelt. Pasquale überreichte Pala einen in Versen verpackten Heiratsantrag. Jemand anderes hatte ein Spruchband angefertigt, das über dem Eingang hing.
     
    Liebe Pala! Herzlich willkommen zu Hause.
     
    Pasquales Vater trug ein eigens für diesen Anlass entworfenes Gedicht vor, das in Palas Ohren seltsam hölzern klang (vermutlich hatte er es erst in letzter Minute angefertigt). Anschließend musste sie viele Fragen beantworten: Wie war es denn in der Villa des Schweigens? Schmeckt das Krankenhausessen wirklich so schlecht, wie immer behauptet wird? Kann Sprachschwund auch von Menschen übertragen werden, die selbst nicht daran erkrankt sind? Sind Stumme auch Dumme?…
    Als sich bei Pala die ersten Kopfschmerzen einstellten, beendete ihre Mutter endlich das Frage-und-Antwort-Spiel. Sie schickte die Nachbarn, bis auf Pasquale und seinen Vater, fort. Nur im kleinen Kreis wollte man Palas Rückkehr in die Welt der Sprechenden feiern.
    Mutter hatte etwas »extra Leckeres« gekocht und nachher sollte es einen heißen Punsch aus Eiern, Rum, Likör und Zucker geben. Der verschaffe einem Hitze von innen, jetzt, wo das Wetter verrückt spiele, genau das Richtige. Zur Feier des Tages dürften auch die Kinder einen Schluck trinken. Pasquale rieb sich die Hände, als hätte er den Punsch bitter nötig. Seine Vorfreude schlug jedoch bald in Verlegenheit um, denn während Palas Mutter das Essen auftrug, wollten die Väter endlich des jungen Dichters Heiratsantrag hören. Nina quietschte vor Vergnügen. Pasquale stöhnte leise und begann zu lesen.
     
    »Selbst wenn mein Herz zerbricht
    und meine Knochen bersten,
    bleibst du mein Sternenlicht,
    die Erste unter Ersten.
     
    Allein mein Leben fristen,
    kann ich mir gar nicht denken.
    In neunzehn Apfelkisten
    werd ich dir Liebe schenken.
     
    Wie lieblich brüllt die Nachtigall
    heut unser Hochzeitslied.
    Bevor ich krieg ‘nen Herzanfall,
    sag Ja, wie ichs dir immer riet.«
     
    »Bravo!«, applaudierte Pasquales Vater mit stolzgeschwellter Brust. Auf Pala wirkte er immer wie ein alter, ausgemergelter Mann, dem das Leben durch manchen Schicksalsschlag das Lachen aus dem Gesicht geprügelt hatte. Er war fast kahl, seine Haare weiß und die faltige Haut unter dem Kinn flatterte wie ein Segel im Wind. Ungeachtet dieses traurigen Äußeren nahm er begeistert Anteil an jedem, wenn auch noch so kleinen Erfolg seines drallen Sohnes. In diesem Moment trieb ihm die Rührung dicke Kullertränen in die Augen und es entwand sich ihm ein neuerliches: »Bravo, Pasquale! Bravo!«
    »Nicht schlecht«, brummte Palas Vater und nickte anerkennend.
    Nina ließ ihren Löffel auf den Tisch des Kinderstuhls knallen.
    »Ich habe noch nie eine Nachtigall brüllen gehört«, mäkelte Pala.
    »Das nennt sich künstlerische Freiheit«, verteidigte sich Pasquale. »Wenn’s dir nicht gefällt, kannsts mir ja zurückgeben.«
    »Na, na, was sind denn das für barsche Töne?«, fragte Mutter, die gerade mit dem letzten Teller dampfender Hühnerbuchstabennudelsuppe das Esszimmer betrat.
    »Pala hat mein Gedicht beleidigt«, klagte Pasquale.
    »Hab

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