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Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte

Titel: Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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verstümmelte Worte von sich. Manchmal fehlte der Anfang, also ein »ab-«, »an-«, »wieder-«, »auf-« oder »unter-«. Bei anderen bröckelten Endungen ab wie »-ung«, »-heit«, »-keit«, »-schaft«, »-turn«, »-nis«, »-sal«, »-sel«, »-chen« und »-lein«. Ein leichter Silbenschwund wirkte wegen der mit ihm einhergehenden Wortverklumpungen nicht selten unfreiwillig komisch. Weil diese Form der Erkrankung zudem leicht mit Schluckauf verwechselt werden konnte, wurde sie oft erst spät erkannt. Andere Infizierte litten unter »Wortausfall«, sie büßten also ganze Begriffe ein. In den meisten Fällen hielt sich der Schaden in Grenzen.
    Obwohl die Epidemie wie eine Grippewelle über die Stadt hinwegschwappte, blieb sie aus unerfindlichem Grund auf den näheren Umkreis von Silencia beschränkt. Gleichwohl trafen selbst aus fernen Ländern Hilfsangebote zur Erforschung und Bekämpfung der rätselhaften Seuche ein. Da die Stadt der Dichter und Denker jedoch seit eh und je führend in der Sprachforschung war, kamen nur verhältnismäßig wenige Fremde nach Silencia. Zitto stieg in diesen schweren Tagen endgültig zum Wohltäter seiner Geburtsstadt auf. Geld besaß er im Überfluss und damit konnte er sich jeden Experten leisten. Das eine wie das andere pumpte er großzügig in die Not leidende Region. Er werde es nicht ohne Eigennutz tun, gaben einige Mahner zu bedenken. Sie wurden jedoch schnell in ihre Schranken verwiesen mit dem Hinweis, einem geschenkten Gaul schaue man besser nicht ins Maul.
    Ganze Scharen von Wissenschaftlern widmeten sich nun dem landläufig als »Sprachschwund« bezeichneten Phänomen: Linguisten, Literaten, Mediziner, Neurologen, Psychiater, Psychologen… Pala lernte in diesen Tagen viele neue Worte. Hilfeleistungen kamen nicht nur aus dem örtlichen Krankenhaus, der Universität und anderen angesehenen Lehr- und Forschungseinrichtungen, sondern auch von Heilkünstlern, die sich mit bisweilen albernen Zusätzen schmückten – »neu«, »alt«, »natürlich«, »übernatürlich«, »mikro«, »makro«, »bio«, »spirituell«, »alternativ« oder »kosmisch«, der Phantasie waren keine Grenzen gesetzt. Pala fand die merkwürdigen Berufsbezeichnungen eher komisch als kosmisch. Zitto wolle, wie seine Firma verlauten ließ, nichts unversucht lassen, den Bürgern seiner Heimatstadt zu helfen. Deshalb lud er auf seine Kosten ein wahrhaft buntes Völkchen von »Könnern« ein.
    Während die angesehenen Wissenschaftler zunächst viel Geld für ihre Forschungen anforderten und in Worten, die kaum jemand verstand, ihrer Unfähigkeit, der Krankheit Herr zu werden, Ausdruck verliehen, beglückten die selbst ernannten Heilspropheten, Quacksalber und Wunderheiler ihre Kundschaft mit teils verblüffend einfachen Kuren.
    Ein Bio-Kurpfuscher zermahlte jedes Lexikon, dessen er habhaft werden konnte, und fertigte daraus einen Brei zur Mehrfachanwendung an: Man konnte ihn einnehmen, sich damit einreihen oder ihn als Einlauf ins Hinterteil einführen. Einfacher ging es kaum! Dieserart dem Körper zugeführte Worte sollten, wie der biologisch ausgerichtete Heiler behauptete, der gefährlichen »Sprachaustrocknung« vorbeugen. Bald begannen die Bewohner der Stadt sich eigene Salben, Trünke und Tropfen anzufertigen, indem sie ihre heimischen Bücherregale plünderten und alle möglichen Werke zu Medizin verarbeiteten. Aus dieser Bewegung entwickelten sich wiederum unterschiedliche Lager, deren Vertreter sogar einem handfesten Streit nicht aus dem Weg gingen, um die Wirksamkeit ihres Lieblingsrezepts zu verteidigen. In einem Brief berichtete Palas Mutter von der jahrzehntelangen Freundschaft zweier Nachbarinnen, die an der Frage zerbrochen war, ob die von Carla Conchiglia beschworene Salbe aus zerriebenen Kochbüchern der von Frederica Frollo bevorzugten Tinktur aus verflüssigten Liebesromanen vorzuziehen sei.
    Ein anderer Sachkenner deutete die seltsame Verflüchtigung der Worte als Folge eines vorausgegangenen, zumeist unbemerkt gebliebenen, Sprechdurchfalls. Er empfahl, je nach Schwere der Erkrankung, stopfende oder sogar sprachhemmende Mittel. Bei leichteren Fällen helfe oft schon strenge Enthaltsamkeit in Bezug auf jegliche Art des Redens – also Tratschen, Plaudern, Schwatzen, Munkeln sowie Rezitieren, Monologisieren und Konversieren. Bei großflächigem Wortausfall, sprach er sich zur Rettung der Lese- und Schreibfähigkeit, für die Entfernung der Stimmbänder aus.
    Pala schien gegen den

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