Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte
Buchveröffentlichungen verschoben; Gebrauchsdichter hängten ihr Mundwerk an den Nagel und gingen in eine von Zittos Fabriken; viele Nachbarn sprachen nur noch das Nötigste, um der Seuche keine Angriffsfläche zu bieten…
»Ich glaube, die Gelehrten irren sich«, sagte Pala. Ihrer Meinung nach redete man sich da eine bequeme Erklärung herbei, die der Wahrheitsfindung nur schadete.
Nonno Gaspare hatte längere Zeit den kleinen Springbrunnen im Innenhof bewundert. Jetzt wandte er sich ihr zu und sah sie wie ein gutmütiger Tanzbär an.
»Du kannst mich nicht verstehen«, seufzte sie traurig und wider besseres Wissen erklärte sie dem Geschichtenerzähler trotzdem, weshalb sie den Fachleuten nicht traute. »Unsere Freundschaft ist – wie soll ich das sagen? – auf Worten errichtet. Ich kenne meinen Nonno Gaspare nur als einen Erzähler: redend, scherzend, dichtend, Rätsel ausdenkend und lösend, neue Worte erfindend oder solche begierig in sich aufsaugend, immer an seinen Geschichten feilend, als einen Menschen eben, für den das Sprechen so wichtig ist wie das Atmen. Davon kann man nicht stumm werden, Nonno. Das glaube ich einfach nicht. Weißt du, was ich denke?«
Der fragende Ton in Palas Stimme zauberte einen erwartungsvollen Ausdruck auf das runzelige Gesicht des Alten.
Pala holte tief Luft, stieß anschließend einen lauten Seufzer aus und sagte feierlich: »Selbst wenn es das schwierigste Rätsel meines Lebens ist, Nonno Gaspare, ich muss herausfinden, was oder wer dir die Worte genommen hat. Ich werde nicht eher ruhen, bis du deine Sprache zurückgewonnen hast.«
Ein Versprechen zu geben ist eine Sache, es nicht zum unbedeutenden Versprecher verkommen zu lassen, eine ganz andere. Obwohl Nonno Gaspare sie nicht verstanden hatte, fühlte sich Pala ihrem Ehrenwort verpflichtet. Bald wurde ihr jedoch bewusst, wie schwierig die Umsetzung ihres Plans war. Wie sollte sie das anfangen, wie die verflüchtigten Worte ihres Freundes wieder einfangen?
Einen neuen Versuch, Zittos Mauer zu übersteigen, wagte sie nicht. Bis in ihre Träume verfolgte sie das schreckliche Erlebnis im Kloster. Manchmal wachte sie des Nachts schweißgebadet auf, nachdem sie zuvor im Traum von der Schlossmauer gefallen und in einen endlosen Abgrund gestürzt war, immer tiefer und tiefer…
Wer das Unbekannte fürchtet, läuft mit Scheuklappen durch die Welt. Das hatte Nonno Gaspare einmal zu ihr gesagt. Sie wollte mit offenen Augen durchs Leben gehen und viele Fragen stellen, vielleicht würde sie auf diese Weise das Geheimnis lüften können, das ihren Freund offenbar – wie anders sollte sie seine düsteren Blicke zur Burg hinauf deuten? – mit Zitto verband.
»Gibt es auf der Welt irgendwo Tiere oder… Wesen, die einem die Worte aussaugen?«, fragte sie Mario. Ihr Nonno Gaspare gegebenes Versprechen war ungefähr eine Woche alt.
Der junge Krankenpfleger sah sie zuerst verständnislos an, dann lachte er. »Fängst du schon wieder mit deinen Vampiren an, Pala?«
»Ich rede von Worten, nicht von Blut …« Sie hielt plötzlich inne. War es überhaupt richtig, diesen Unterschied zu machen? Ohne eine weitere Frage wandte sie sich von Mario ab und lief in den Innenhof zu Nonno Gaspare.
»Du musst sprechen!«, flehte sie ihn an, als sie ihn auf der Bank im Schatten eines Oleanderstrauches fand.
Seine Antwort bestand nur aus verständnislosen Blicken.
»Begreifst du denn nicht, Nonno? Deine Worte sind dein Lebensblut. Deshalb schwinden deine Kräfte von Tag zu Tag. Du wirst in die Grube fahren, wenn du nicht wenigstens versuchst etwas zu sagen.« Pala sah das unglückliche Gesicht ihres Freundes und ihr dräute, was es wirklich bedeutete, kein Sterbenswörtchen reden zu können. Nonno Gaspare erkannte ihre heftigen Gefühle, aber die Bedeutung ihrer Anfeuerungen wollte sich ihm nicht erschließen.
»Wir müssen Zeit gewinnen!«, stieß sie hervor. »Und ich weiß auch schon wie: Ich werde dir das Zeichnen beibringen.«
Pala ließ dem alten Gaspare kaum noch eine ruhige Minute. Er konnte sich in Bildern ausdrücken, das hatte sie ja gesehen. Diese Gabe musste gefördert werden. Sie selbst war nicht ungeschickt im Zeichnen und was sie darüber wusste, würde sie ihn lehren.
Nonno Gaspare belohnte ihre Anstrengungen mit stetigen, wenn auch sehr kleinen Fortschritten. Er gab sich nicht auf, das allein zählte. Allmählich wich seine Müdigkeit und Niedergeschlagenheit. Nach einigen Tagen konnte er einfache
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