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Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte

Titel: Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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sich eilig umdrehte, dann vermochte sie vielleicht gerade noch eine Schwanzspitze in einen Nebengang entschwinden sehen. In wessen Reich war sie da nur geraten? Hatte man Scheuheit hier in den Rang einer Tugend erhoben oder nur das große Sammeln vor dem gemeinsamen Angriff verordnet?
    Es mochten viele Stunden vergangen sein, als Pala an einer Weggabelung stehen blieb. Sie lehnte sich gegen die Wand. Ihre Füße fühlten sich taub an. Erschöpft sank sie in die Hocke hinab. Allein in einer Nussschale auf einem weiten Ozean hätte sie sich nicht einsamer fühlen können. Im Treppenlabyrinth hatte ihr Giuseppe Mut eingeflößt, doch hier kam ihr niemand zu Hilfe. Ihr Kinn sank auf die Brust und sie schluchzte leise: »Wenn wenigstens Tozzo da wäre!«
    Sie streckte die Beine aus. Eher abwesend nahm sie die grünen Lichtfinger wahr, die sie bei jeder Bewegung wie prüfend betasteten, um gleich wieder von ihr abzulassen.
    »Ihr glosenden Fühler findet wohl keinen Gefallen an mir. Na ja, ich will auch nichts von euch wissen«, sagte sie leise und gestattete sich ein tiefes Seufzen. Im nächsten Moment war sie eingeschlafen.
     
     
    Als Pala erwachte, wusste sie für einen Augenblick nicht, wo sie sich befand. Sie sprang erschrocken auf, spürte schmerzlich ihre steifen Glieder, dann fiel ihr alles wieder ein.
    Ihr Magen knurrte. Sie brauchte schleunigst einen guten Einfall, sonst würde sie in diesem Labyrinth verhungern. Mutlos sank sie wieder in sich zusammen. Alles Klagen würde ihr nichts nützen. Sie musste nachdenken, zur Einsicht gelangen, denn darum ging es doch in dem höhnenden Wandgedicht: Erwähl der Einsicht Schild zu deinen Gunsten.
    »Wie komme ich aus diesem Rätsel wieder heraus?« In diesem Punkt war sie sich ganz sicher: Auch das Haus des Schweigens barg ein Rätsel, das sie nur lösen musste, um wieder freizukommen. Aber welches?
    Probehalber rief sie sich noch einmal das Gespräch mit Giuseppe in dem Treppenlabyrinth in den Sinn. Ja, mit seiner Einschätzung lag er genau richtig. Sie hatte sich nach dem letzten Streit ihrer Eltern in ein Spiegelkabinett verletzter Gefühle und trügerischer Gedanken geflüchtet und darin die Orientierung verloren. Wo eigentlich Liebe sein sollte, sah sie plötzlich Hass, anstelle von Vertrauen nur Betrug. Nach jahrelanger Suche war sie auf Antworten gestoßen, die den glaubhaften Schmerz der Wahrheit in sich trugen.
    Inzwischen war Pala klüger. Sich im Leiden zu ergehen erschien ihr wie eine abartige Form der Bequemlichkeit – wozu noch länger nach unangenehmen Wahrheiten suchen? Hatte sie sich etwa vorschnell mit den, zweifellos gedankenlosen, Worten der Eltern abspeisen lassen? Eine reißende Bestie sei die Lüge, hatte Tozzo erst kürzlich gesagt. Konnte am Ende dieses Ungeheuer Palas Familie zerrissen haben?
    Sie lauschte in sich hinein. Aber da war kein Rucken, kein Schwindelgefühl, wie sie es sonst beim Lösen eines Zittorätsels gespürt hatte – nichts. Offenbar ließen sich die »gold’nen Schlüssel« der Einsicht nur einmal gebrauchen.
    Über diesem Gedanken wäre ihr fast das Rascheln entgangen.
    Wie schon andere Laute zuvor, hob auch dieses Geräusch sich deutlich von dem allgegenwärtigen Geflüster ab. Diesmal jedoch verhielt sich Pala völlig still. Mit angewinkelten Beinen saß sie an der Wand und bereitete sich auf ein schnelles Zupacken vor. Allem Anschein nach kam vom Quergang ein kleineres Tier herauf. Flinke Pfoten oder Krallen tippelten über den harten Boden – und gleich darauf um die Ecke.
    Palas Arme schnellten vor wie die Zunge eines Chamäleons und vergruben sich in flauschigem Pelz. Mit gerunzelter Stirn zog sie ein kleines, heftig zappelndes Wuschelwesen zu sich heran, das lauthals schimpfte.
    »Loslass’n, loslassen! Musst-du nich’ mach’n, Grobiane! Muss weglaufn. Kann-nich’ hier bleib’n!«, schrie es mit fipsiger Stimme, wobei es die Endsilben verschliff und zudem Worte schamlos zusammenschmolz, weshalb Pala es kaum verstehen konnte. Sie musste sich Gehör verschaffen.
    Neben ihrem Ohr gleißte ein breiter grüner Lichtfächer aus der Wand. Da hinein hielt sie das zappelnde Geschöpf, fragte es nach Namen, Herkunft und Absichten, während sie es gleichzeitig einer gründlichen Begutachtung unterzog.
    Der hilferufende Zappelpelz war ungefähr so groß wie ein Zwergkaninchen. Anders als solche hatte er jedoch sehr kurze runde Ohren. Diese, wie auch der größte Teil seines übrigen Körpers, waren dicht mit langen

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