Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte
sein. »Is’ dir schon was eingefallen?«, fragte er ungefähr drei schnelle Herzschläge später.
»Bei Rätseln muss man gründlich überlegen, bevor…« Palas Stimme versickerte im Sand tiefen Grübelns.
»Nusch’l mag keine Brezeln.«
»Ich habe von Rätseln gesprochen, nicht von Brezeln.« Nuschels pausenloses Herumgeturne und das unentwegte Wispern um sie herum war hervorragend dazu geeignet, sie in den Wahnsinn zu treiben. Wie sollte sie das Rätsel nur unter solchen Bedingungen lösen? »Sind alle Bewohner dieses Hauses so zapplig wie du?«
»Ja, warum?«
Pala stöhnte und schloss die Augen. Damit war wenigstens eine Störquelle ausgeschaltet. Als Konzentrationshilfe angelte sie sich eine Haarlocke von der Schulter und begann diese um den Zeigefinger zu wickeln. Der Vorgang interessierte Nuschel. Er kletterte auf ihre Schulter und beobachtete eine Weile das Gezwirbel, bis er sich von ihrem Schopf ein eigenes Büschel heranzog. Anschließend erkundigte er sich höflich nach dem Fortschritt von Palas Erwägungen.
Die reagierte nicht mehr. Endlich versunken in tiefes Grübeln, vernahm sie weder Nuschels Nachfragen noch das Geflüster im Gang. Es war wie daheim unter dem endlosen Geschwafel des Papperlas, da hatte sie sich auch oft in die Burg ihrer eigenen Gedanken zurückgezogen. Nicht alles, was der Vogel sagte, war wertlos, aber das Nützliche vom Abfall zu trennen verlangte viel Zeit und Kraft, wobei der heimische Gedankenaustausch nicht selten auf der Strecke blieb.
Und hier war es ähnlich, nur etwas leiser, machte sich Pala klar: ein Haus voller Geflüster. Wie passte das zu Zittos Ansinnen, den Menschen die Sprache zu nehmen? Und wie zu dem rätselhaften Sinnspruch am Eingang? Suchst Ruhe du… In diesem Gemäuer herrschte ein unablässiges Gemurmel wie auf einem dieser großen Feste, die Zitto für seine Gefolgschaft ausrichten ließ. Pala musste an den Besuch der Wohltätigkeitsveranstaltung denken, von der sie Giuseppe in der Basilika erzählt hatte. Ein ganzer Saal voller Leute, die unablässig plauderten, ohne sich das Geringste zu sagen – das sinnlose Geplapper war ihr bald auf die Nerven gegangen und sie hatte das Fest mit Kopfschmerzen schnell wieder… Unvermittelt stieß Pala den Zeigefinger senkrecht in die Luft und schrie: »Ich hab’s!«
Nuschel fiel vor Schreck wie ein reifer Apfel in ihren Schoß, rappelte sich aber erstaunlich schnell wieder auf und blickte erwartungsvoll in ihr glühendes Gesicht. »Nu sag schon!«
»Das Rätsel lautet: Suchst Ruhe du, die niemand stört, komm rein, find selbst, was nie gehört.«
»Oh, oh, so wird’s nich’ klapp’n«, nuschelte Nuschel.
»Die Lösung ist so einfach – ich könnte mir glatt in den großen Zeh beißen. Was ist in diesem Haus nie gehört worden?«
»Hab ich nich’ drauf geachtet.«
»Na eben! Weil hier ständig dieses Flüstern ist. Dazu kommt eure Ruhelosigkeit. Und genau das ist es, was hier noch nie gehört wurde. Euer Geflüster ist ohne jedes Ende, genauso wie dieses Labyrinth. Aber es ergibt keinen Sinn! Für einen Außenstehenden wie mich sind eure Fistelworte – bitte verzeih mir – ebenso schäbig und klein wie das Haus des Schweigens. Das liegt daran, weil ihr keine Gedanken austauscht, sondern nur Geräusche macht. Für euch dagegen ist das sinnlose Gewisper alles, was ihr habt, eure ganze Welt. Ja, das muss des Rätsels Lösung sein: Hohle Worte sind leerer als beredtes Schweigen.« Pala holte Luft und schrie aus voller Kehle: »Ruhe!«
Nuschel beäugte sie argwöhnisch. Das Flüstern hielt an. Hatte sie etwas falsch gemacht? Es musste doch stimmen: So lange sie denken konnte, hatte man sie über die Wahrheit ihrer Herkunft hinweggetäuscht. War sie am Ende, eingelullt in doppelzüngiges Gefühlsgesäusel, schon oft am Ausgang dieses Lügenlabyrinths vorbeigelaufen, ohne ihn zu bemerken? Noch einmal schöpfte sie tief Atem und brüllte: »Still!«
Und es wurde still.
Im nächsten Moment spürte Pala das ihr nur allzu bekannte Rucken im Weltgefüge. Sie stieß einen Jubelschrei aus. »Schau nur, wir haben es geschafft, Nuschel!« Sie packte das erschrockene Pelzknäuel unter den Armen, drehte es herum, und zeigte ihm die gegenüberliegende Wand.
»Da is’ ‘ne Tür«, staunte Nuschel.
»Und ob! Komm, schnell raus hier.«
Obwohl das Schwindelgefühl noch nicht ganz abgeklungen war, sprang Pala auf und lief mit Nuschel in den Flüsterwald.
Eine sanfte Brise umspielte die Baumwipfel und
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