Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte
Baumes hätte sie das Gebäude vermutlich gar nicht bemerkt. Schon löschte der sturzflutartige Regen wieder die Flammen und die Erscheinung zog sich langsam in die Schatten zurück. Wissend, wie schnell man in diesem Garten etwas verlieren konnte, begann Pala auf das Haus zuzulaufen. Ihre nackten Fußsohlen patschten über den voll gesogenen Waldboden. Schlamm und Nadeln spritzten an ihr hoch. Dann endlich erreichte sie die Lichtung.
Sie blieb vor dem Schuppen stehen und musterte ihn einige Donnerschläge lang. Sein Anblick behagte ihr nicht. Sie hätte schwören können, dieses Holzhäuschen mindestens schon eine Million Mal am Hang des Schlossberges gesehen zu haben, aus weiter Ferne nur, aber seine schlichte Form war unverwechselbar. Es besaß ein spitzes Dach und war auffällig klein. Der Erbauer hatte zwar an eine Tür gedacht, sich den Luxus von Fenstern dagegen gespart. Über einen Blitzableiter verfügte die Waldkate selbstredend nicht. Ob es innen wohl sicherer war als hier draußen? Wie auf Bestellung zielte der Himmel auf einen in der Nähe stehenden Baum – und traf.
Pala zuckte unter dem knallenden Blitz zusammen, war aber dennoch geistesgegenwärtig genug, um einen Schriftzug über dem Eingang der Hütte zu entdecken. Nun, im Licht einer neuen Baumfackel, konnte sie das Schild sogar lesen.
HAUS DES SCHWEIGENS
Suchst Ruhe du, die niemand stört, komm rein,
find selbst, was nie gehört
Pala stutzte. Erst eine Villa und nun ein Haus mit diesem Namen? Konnte so viel Schweigsamkeit gut sein? »Ach, was solls«, schimpfte sie. Was konnte ihr in diesem winzigen Hüttlein schon Übleres zustoßen als hier draußen unter dem himmlischen Feuerhagel? Sie riss die Tür auf und sprang in das Haus.
Die Ruhe war nicht einmal das Schlimmste. Im Vergleich zu dem fauchenden Sturm, dem prasselnden Regen und den krachenden Blitzen draußen konnte man hier drinnen zwar zu Recht von Friedhofsstille sprechen, doch selbst ein Totenacker ist selten völlig lautlos – da flöten Vögel, summen Insekten und tuscheln Blumengießer. Gemessen daran klangen die leisen Geräusche in dem Haus des Schweigens durchaus beunruhigend.
Es handelte sich um ein hallendes, vielstimmiges, aber ganz und gar unverständliches Wispern. In seiner Lautstärke übertraf es bei weitem jenes kaum wahrnehmbare Säuseln des Waldes vor Beginn des Unwetters.
Diese Wahrnehmung passte so wenig zu einer Hütte mit einer Grundfläche von bestenfalls drei mal drei Schritten wie die inneren Maße und die sonstige Beschaffenheit des Gebäudes. Pala stand am oberen Ende einer riesigen rechteckigen Halle aus geglättetem Lavagestein. In Abständen von jeweils ungefähr zehn Schritten schwebten kugelförmige, grün strahlende Wolken unter der hohen Decke, wobei sich nicht erkennen ließ, was diese Kandelaber dort oben festhielt oder woher sie ihre Leuchtkraft nahmen. Insgesamt fünf tauchten den ansonsten gähnend leeren Saal in ihr flaschengrünes Licht. Aufgrund dieser flüchtigen Beobachtungen drängte sich bei Pala der Eindruck auf, mit dieser Waldhütte stimme etwas nicht.
Als sie sich umdrehte, erhärtete sich der Verdacht, in einer Falle zu stecken.
Die Tür war verschwunden.
Außerdem musste sie sich einmal mehr dem, wie es ihr schien, Gespött eines Gedichts aussetzen.
Gelingt nur den an Wahrheitsworten Reichen,
was stummen Zweiflern gar nicht will gedeihen,
so müssen sie den Armen Worte leihen,
damit Besorgnisse von ihnen weichen.
Die Angst täuscht dich mit trügerischen Zeichen,
aus Freund wird Feind, dem nimmer willst verzeihen.
Sein Blut soll deines Argwohns Tempel weihen,
wünschst ihn verfault im Grab mit andren Leichen.
Im Lügentümpel fette Kröten brunsten,
des Truges Brut sind unheilvolle Quappen,
doch Wahrheitslicht kann ihren Sumpf verdunsten.
Eh’ Lebensmut dir flieht auf schwarzem Rappen
erwähl der Einsicht Schild zu deinen Gunsten –
der Irrtum steht auf Zweifels morschem Wappen.
Von einer Zeile fühlte sich Pala besonders verhöhnt: Die Angst täuscht dich mit trügerischen Zeichen. Zähneknirschend musste sie sich ebendiesen Fehler eingestehen. Sie hatte einem schnöden Holzschild vertraut, sich Ruhe vor Sturm, Regen und Blitz erwünscht – und alle Vorsicht fahren lassen. »Hüte dich davor, deine Sehnsüchte zu stillen«, hatte Nonno Gaspare immer gesagt. Ob er damit diese Art von Enttäuschung meinte?
Pala war wieder einmal höchst unzufrieden mit sich selbst. Sie
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