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Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte

Titel: Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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hätte ja nur das »Kleingedruckte« lesen müssen! Suchst Ruhe du, die niemand stört, komm rein, find selbst, was nie gehört. Jetzt, wo es zu spät war, kamen ihr diese Worte mehr als nur verdächtig vor. Sie klangen hinterhältig, hundsgemein. Aber vorhin, als es rings um sie gedonnert und gekracht hatte… Palas Finger schnappten sich eine nasse Haarlocke und begannen sie zu zwirbeln. Entpuppte sich am Ende jener vielsinnige Satz auch wieder als ein zittoischer Rätselspruch?
    Was in dem Sonett über Blut und Leichen stand, konnte Pala jedenfalls nicht aufheitern. Doch sie wollte sich kein zweites Mal von der Angst zu unüberlegtem Handeln verleiten lassen. Wenn Einsicht den Irrtum von seinem morschen Wappenschild stieß, deutete sie die zu Stein gewordene Weisheit, dann brauchte sie jetzt einen klaren Kopf. Sie musste sich zusammenreißen, um einen Ausgang aus diesem Gefängnis zu finden. Langsam drehte sie sich um und schritt in den Saal hinein.
    Fußboden, Wände und Decken der Halle bestanden aus einem löchrigen Schwarzgrau, fast so, als wären sie mit dunkler Asche bestäubt. Pala trat an die Wand zu ihrer Linken. Sie spürte einen schwachen Luftstrom. Er musste, ebenso wie das allgegenwärtige Geflüster, aus den verschieden großen Poren des rauen Gesteins strömen. Der beklemmende Gedanke von eingemauerten Gefangenen schlich in ihrem Kopf herum. Oder waren es am Ende die großen Quader selbst, die da von ihren Nöten sprachen? Leider ließ sich auch nicht das Geringste verstehen.
    Unbehaglich zog sich Pala wieder in die Mitte des lang gestreckten Raumes zurück und lief sodann langsam auf das gegenüberliegende Ende zu. Als sie nur noch wenige Schritte von der Wand entfernt war, tauchte eine rechteckige Öffnung vor ihr auf. Erschrocken blieb sie stehen und blickte in einen Gang, der mit grünem Licht durchwirkt war.
    Wie hatte sie ihn übersehen können? War sie nur unaufmerksam gewesen? Ohne sich umzuwenden, ging sie noch einmal zwei, drei Schritte zurück. Das Loch verschwand, als wäre es nur eine Fata Morgana gewesen. Wieder näherte sie sich der Wand und erneut verblasste der Stein, schien sich gleichsam in Glas zu verwandeln, bis auch dieses sich auflöste.
    Vorsichtig trat Pala in den Gang. Er war erfüllt von vielstimmigem Flüstern. Springend hätte sie vielleicht seine Decke, sich mit ausgestreckten Armen in der Hüfte hin und her neigend, wohl auch seine Wände berühren können, aber sie hütete sich davor, das eine wie das andere zu versuchen. Aus den Fugen und Poren der Wand schoss grünes Licht. Als wollten gleißende Klingen, Speere und haarfeine Drähte ihr den Weg versperren, bildeten die Strahlen ein unwirkliches Gitter aus waage- und senkrechten Glimmerlinien.
    Mit der Kuppe des Zeigefingers berührte Pala behutsam einen besonders dünnen Lichtstrahl. Sie fühlte nichts, keine Hitze, keinen Schmerz, gar nichts. Als sie den Finger jedoch wieder zurückzog, schien der gleißende Faden ganz kurz an ihrer Haut kleben zu bleiben, um dann jedoch wie ein Gummiband in seine schnurgerade Ursprungsform zurückzuschnellen. »Wenigstens wird das Licht mich nicht in feine Würfel zerschneiden«, seufzte sie und trat mutig einen Schritt vor.
    Sogleich schwoll das Wispern in dem Gang an. Atemlos lauschte Pala dem fistelnden Geräusche. Hörte sie da den Klang von Mitleid, den Chor des Bedauerns? Ärgerlich schüttelte sie den Kopf. Hier stehen zu bleiben und Spinnweben anzusetzen, nützte gar nichts. Das Haus des Schweigens war kein Ort, in dem man sich länger als nötig aufhalten sollte. Entschlossen setzte sie ihren Erkundungsgang fort.
    Bei dem Gebäude schien es sich um einen Tempel zu handeln, der Zittos krankhafter Neigung zu Wirrsalen gewidmet war. Es verfügte, ganz ähnlich dem unterirdischen Treppenlabyrinth, über eine schier unbegrenzte Anzahl von Wegen, die sich ungehemmt kreuzten und verzweigten. Sollte es je eine Gesetzmäßigkeit in diesem überdachten Irrgarten geben, dann war es das Gebot zur größtmöglichen Orientierungslosigkeit. Ohne Bindfaden oder sonstige Hilfsmittel hatte sich Pala bald hoffnungslos darin verlaufen.
    Zur Steigerung ihres Unbehagens trugen einige flüchtige Begegnungen bei, die sie während ihrer Wanderung durch den unsäglichen Tempel machte. Sie konnte dessen Bewohner stets nur aus den Augenwinkeln wahrnehmen. Bog sie um eine Ecke, sah sie einen großen Schatten um eine andere entfliehen, oder wenn sie hinter sich ein verdächtiges Geräusch vernahm und

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