Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte
ließ sie leise wispern. Der Himmel hatte sich wieder in hellgraues Tuch gekleidet. Wann mochte das Gewitter abgezogen sein? Waren nur wenige Stunden verstrichen, seit sie das Haus des Schweigens betreten hatte, oder eine ganze Nacht? Pala wusste es nicht.
Endlich wieder in Freiheit, wollte sie den Ort des unerfreulichen Erlebnisses so schnell wie möglich hinter sich lassen. Deshalb lief sie zunächst ziellos durch den Wald. Nuschel blieb bei ihr. Er hatte seine Retterin ins Herz geschlossen und lechzte nach Gelegenheiten, sie mit seiner Dankbarkeit zu überhäufen. Bald entdeckte er einen Strauch voller blassgelber, halb durchsichtiger Beeren, die wie Strohhalme aussahen. Nuschel verwies auf die Essbarkeit der Leckerbissen und fiel sodann wie ein ausgehungerter Zwerglöwe darüber her. Pala kostete zunächst zögerlich von den Waldfrüchten. Sie schmeckten vorzüglich.
Nachdem der Strauch vollständig abgeerntet war, setzte das Paar den Marsch mit frischen Kräften fort. Anscheinend drangen sie nun in einen sehr alten Teil des Waldes ein. Das Blätterdach hoher knorriger Stämme war an die Stelle des Himmels getreten. Es herrschte ein stetig schwächer werdendes Zwielicht. Der Boden unter Palas Beinen gab bei jedem Schritt nach und schmatzte, als sei es ihm ein Genuss, an ihren zerschundenen Füßen zu lecken. Vermutlich hatte der heftige Regen das Erdreich aufgeweicht. Seltsamerweise wurde der federnde Untergrund zunehmend weicher und feuchter, anstatt zu trocknen. Pala entsann sich wieder ihrer ursprünglichen Absichten.
»Ist das der Weg zu Zittos Burg?«
»Weiß-ich-nich’«, nuschelte Nuschel.
»Ich muss sie dringend finden.«
»Aber nich’ heute.«
Palas Augen suchten nach Lücken in den dichten Baumkronen. An wenigen Stellen schimmerten dunkle, bleigraue Wolken hindurch. »Du hast Recht. Es wird allmählich dunkel. Wir müssen uns ein sicheres und vor allem trockenes Plätzchen suchen.«
Was so einfach klang, sollte sich bald zu einem großen Problem auswachsen. Pala hatte sich nämlich in einen Sumpf verirrt. Und mit jedem Schritt geriet sie tiefer hinein. Bald versanken ihre Füße bis zu den Waden im Morast. Ringsherum gluckerte der Boden, brach immer wieder auf und schleuderte Matsch wie auch Gase in die Luft. Unterschiedliche Gerüche wurden dabei freigesetzt: verfaultes Ei, Kuhfladen, Furz, Käsefuß, Achselschweiß…
Die Duftnoten waren enorm abwechslungsreich und kaum zu ertragen.
»Warum hast du mich vor diesem fürchterlichen Sumpf nicht gewarnt?«, brach es irgendwann aus dem Mädchen hervor.
»Hast mich ja nich’ danach gefragt«, lautete Nuschels knappe Antwort.
Verzweifelt hielt Pala nach Schildern oder Bauwerken Ausschau, die ihr einen befreienden Rätselspruch anböten, bevor es völlig dunkel wurde. Aber da fand sich nichts.
Mit einem Mal hatte sie eine Idee.
»Nuschel?«
»Ja?«
»Du scheinst ja dieses Moor zu kennen.«
»Nur vom Getusch’l un’ Genusch’l der anderen. Jeder in Zittonien fürchtet den Boboros.«
»Seltsamer Name.«
»Boboros is’ der Wortsumpf. Hier blubbern die scheußlichsten Schimpfworte. Nimm dich in Acht, damit du nicht von ‘ner platzenden Sprechblase getroffn wirst!«
»Wäre das so schlimm? Ich sehe sowieso schon aus wie ein Ferkel.«
»Das Wort würde an dir haft’n bleib’n. Du bekommsts fast nich’ mehr los.«
In diesem Moment blähte sich unmittelbar vor Pala die Pampe. Anstatt fortzulaufen, starrte sie wie versteinert auf die immer größer werdende Blase – bis diese zerplatzte.
»Kotzbrocken!«, rief Pala.
»Siehst’e«, nuschelte Nuschel. »Wie ich gesagt hab.«
Voller Ekel sah Pala an sich herab. Ihr ohnehin schon ruiniertes Kleid sah jetzt so aus, als sei sie durch eine Jauchegrube gezogen worden. »Was soll ich denn nun machen?«
»Weitergehen.«
Pala seufzte, stapfte weiter und formulierte mit großer Sorgfalt eine einfache Frage. »Kennst du den Weg aus diesem Sumpf, Nuschel?«
»Ja.«
»Aber warum…!?« Pala schluckte ihren Unmut herunter. »Schon gut. Ich habe dich nicht gefragt. Wärst du so nett und würdest mich hinausbegleiten?«
»Natürlich. Nusch’l is’ dir noch was schuldig.«
Nun übernahm das Nuschel die Führung. Es vermied dabei tunlichst jede Berührung mit dem blubbernden Boden, und sprang stattdessen geschickt wie ein Eichhörnchen von Ast zu Ast. Pala hatte alle Mühe, ihm zu folgen. Es dauerte nicht lang und der Grund wurde trockener. Als die Nacht endgültig vom Wald Besitz ergriff,
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