Palast der blauen Delphine
ein Büschel in die Tasche!«
Dann forderte sie ihn auf, sich hinzusetzen und ihr zuzuhören. »Ich führe dich jetzt in die große Höhle und lasse dich dort allein. Drei Tage wirst du dort bleiben. Du wirst nichts anderes essen als die getrockneten Pilze und die Kräuter in diesem Säckchen, nichts trinken als das Wasser dieser drei Krüge. Sei wach und aufmerksam! Dir werden unbekannte Dinge begegnen, Bilder, vielleicht Stimmen oder Gestalten. Du bist ihr Meister, Astro! Du kannst sie entstehen und wieder verschwinden lassen – ganz wie du willst. Aber du kannst sie nur beherrschen, wenn du sie genau ansiehst. Wenn du vor ihnen fliehst, wenn du die Höhle früher verläßt, dann haben sie für immer Macht über dich. Bist du bereit?«
Sie sah, daß der Junge mit enger Kehle nickte.
»In der Höhle erfährst du auch deinen neuen Namen. Den Namen, der dich zum Mann macht. Den Namen, der dein weiteres Schicksal bestimmt.«
Unverwandt starrte er sie an.
»Und noch etwas, mein Junge«, sagte sie, sehr sanft nun. »Es ist kein Kinderspiel, was dich erwartet. Angst zu zeigen, zu schreien, zu weinen, ist keine Schande. Es kann sein, daß du Dinge siehst, die dein Innerstes berühren – dann weine, schreie und brülle! Aber stell dich! Nimm den Kampf mit ihnen auf!«
»Ich laufe nicht davon, das weißt du doch«, entgegnete Astro ernst und sah dabei sehr verletzlich aus. »Und was ist nach den drei Tagen? Was geschieht dann?«
Dann bist du Asterios, der Sternengleiche, dachte sie. Der Sohn Pasiphaës, der sich anschickt, sein schwieriges Erbe anzutreten. Der Lilienprinz, der als einziger unsere Insel vor dem Untergang bewahren kann.
»Nach drei Tagen hole ich dich wieder ab«, gab sie ihm statt dessen zur Antwort. »Dann sage ich dir, was weiter zu geschehen hat.«
»Und woher weiß ich, daß drei Tage vorüber sind?«
»Mach dir deswegen keine Sorgen«, sagte Merope mit Nachdruck. »Du wirst es wissen.«
Dann war er allein in dem großen, leicht gewölbten Dunkel, das nur schwach vom Licht seiner Fackel erhellt wurde. Noch meinte er ihre Umarmung zu spüren, ihr Segenszeichen auf seiner Brust. Aber sie war fort.
Seine Augen brauchten eine ganze Weile, bis sie sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten und mehr als Schatten oder verschwommene Umrisse erkennen konnten. Nackter Fels, so weit er sehen konnte, faltige Risse, zerklüftete Gesteinsbrocken. Er fröstelte trotz des Umhangs. Welch riesiger, unwirtlicher Raum! Wasser tropfte von den Wänden und sammelte sich in kleinen Rinnsalen auf dem Boden. Diese Höhle hatte nichts gemein mit den Schutzhöhlen der Weißen Berge. Sie war anders. Alt, bedrohlich und unerbittlich.
Er lachte laut auf, versuchte, sich durch den Klang seiner eigenen Stimme Mut zu machen. Wie konnte eine Höhle unerbittlich sein? Und dennoch spürte er, daß zwischen diesen Wänden, in diesen feuchten Spalten und Ritzen etwas auf ihn wartete.
Schau dir die Dinge an, hatte sie gesagt. Dann kannst du ihnen begegnen.
Ich werde ihnen begegnen, dachte er grimmig. Entschlossen schritt er den Raum ab und untersuchte den Boden. Er hielt erschrocken inne, als sein Fuß an einen harten Gegenstand stieß. Astro bückte sich und nahm ein Steinfigürchen auf: eine hockende Frauengestalt, zwischen deren geöffneten Beinen ein kleiner Kopf herauskam. Ganz in der Nähe fand er weitere Gegenstände, Doppelspiralen, Haarnadeln, Spitzen von Spinnrocken, eine kleine Bronzekröte, die übliche Votivgabe für eine glücklich verlaufene Geburt.
Große Göttin, was sollte er in einer Frauenhöhle? Natürlich wußte er, daß Frauen im heiligen Leib der Großen Mutter um Liebesglück und Fruchtbarkeit beteten. Daß sie der Göttin vor und nach der Entbindung mit kostbaren Opfergaben huldigten. Daß nach dem ersten Mondfluß Mädchen das Dunkel als Frauen verließen, für immer mit der Großen Gebärerin verbunden.
Aber ich bin kein Mädchen, das zur Frau gereift ist. Ich bin ein Mann.
… wirst du zum Mann, erfährst die Kraft und die Macht der Göttin und erhältst deinen neuen Namen. Such dir einen guten Platz, öffne das Leinensäckchen und kaue eine Handvoll Pilze, hatte Merope gesagt. Er würde der weisen Frau, die seine Mutter war, gehorchen, wie er ihr meistens gehorcht hatte.
Er breitete seine Decke auf dem Boden aus, ließ sich nieder und begann die ledrigen Pilze zu kauen. Bitter schmeckten sie und hinterließen auf seiner Zunge ein pelziges Gefühl. Mit ein wenig Wasser spülte er nach. Sein
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