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Palast der blauen Delphine

Titel: Palast der blauen Delphine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Riebe
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Er sehnte sich nach Licht. Er versuchte, auf die Füße zu kommen. Es mißlang. Einmal. Zweimal. Schließlich stand er zitternd da und bewegte sich wie ein Schlafwandler auf den Ausgang zu.
    Vom Licht geblendet, trat er hinaus in die Welt. Sah hinauf zum endlosen Blau des Himmels.
    »Willkommen, Asterios«, begrüßte ihn Merope. »Der dritte Tag geht gerade zu Ende.«

Die Mondkinder
    Er watete bis zu den Knien ins Wasser und genoß den warmen Wind auf seiner Haut. Eine Brise kräuselte die Wellen und trug den würzigen Duft der Strandpinien zu ihm herüber. Zu seiner Linken, im stachligen Ufergestrüpp, graste seine Herde.
    Er war nicht groß, aber kräftig und muskulös. Braunes, dichtes Haar fiel ihm bis auf die Schultern. Das Gesicht war länglich, die überraschend zierliche Nase leicht nach oben gebogen, was sie neugierig und kühn zugleich machte. Ausgeprägte Backenknochen und ein kantiges Kinn gaben seinen Zügen auf den ersten Blick etwas Bäuerliches – wären da nicht die moosgrünen Augen gewesen. Tiefliegend unter starken Jochbögen, blickten sie skeptisch und aufmerksam. Beinahe verheilte Kratzer zeigten, daß er beim Rasieren noch etwas ungeschickt war. Aber obwohl ein nachdenklicher Zug seine schmalen Lippen versonnen wirken ließ, war nichts Kindliches mehr an ihm.
    Er war ein Mann geworden. Er war der Höhle entkommen. Er war Asterios.
    Zum erstenmal seit Tagen konnte er wieder richtig atmen, fühlte sich frei und unbeschwert. Nächtelang hatten ihn die Bilder und Gesichter der Höhle verfolgt, nächtelang war das Flüstern in seinem Kopf zu lautem Dröhnen angeschwollen, dem er mit brennenden Augen in der Dunkelheit nachsinnen mußte.
    Welch seltsame, weit versprengte Geschichte! Wieder und wieder hatte er die Bilder und Worte in seiner Erinnerung gewendet und versucht, um seine eigene Rolle in dem Geschehen zu begreifen. Die Vergangenheit erschien ihm wie ein dunkles, hungriges Tier. Bedrohlicher aber noch kam ihm die Zukunft vor. Welche Gefahr drohte der Insel? Wieso sollte ausgerechnet er sie retten können? Verzweifelt suchte er nach dem Schlüsselwort, das ihm alles erklären würde. Aber er fand es nicht. Und auch Merope war nach den Tagen in der Höhle ungewohnt wortkarg gewesen, daß er schließlich die meisten seiner Fragen für sich behalten hatte.
    Sie hatte nicht geweint beim Abschied, obwohl ihre Augen wie polierte Haselnüsse geglänzt hatten. Eine kurze, innige Umarmung, die in ihm die Gerüche und Empfindungen seiner Kindheit heraufbeschworen hatte. Schließlich hatte er kühles Metall in seiner heißen Hand gespürt.
    »Sehe ich dich wieder?«
    »Ich bin immer bei dir, mein Sohn. Immer.«
    Dann war sie fortgegangen, mit raschen, festen Schritten, die Schultern unter dem Wollumhang ein wenig höhergezogen als gewöhnlich, den Lederbeutel geschultert. Sie hatte sich nicht mehr umgedreht. Da erst hatte er die Faust geöffnet. Eine kostbare Goldschmiedearbeit hatte in seiner Hand gelegen, ein fast taubeneigroßes Medaillon aus dunklem, rötlich schimmerndem Gold: der Sonnenball zwischen dem Doppelhorn des heiligen Stiers.
    »Geh nicht!« hatte er tränenerstickt geflüstert. »Komm zurück! Ich brauche dich.«
    Doch sie war fort.
     
    Aber hier am Meer wurden die schwermütigen Gedanken der letzten Zeit immer unwirklicher. Asterios ließ sich in den warmen Sand gleiten. Hungrig war er, abenteuerlustig, voller Tatendrang. Längst war seine Kraft zurückgekehrt. Merope hatte ihn vor der Höhle mit Brei und süßem Beerensaft gestärkt, den er noch im Liegen getrunken hatte. Bis zum Morgen waren sie dann auf dem Plateau geblieben, bevor er sich im ersten Grau der Dämmerung stark genug für den Abstieg gefühlt hatte.
    Am Fuß des Berges, nach einer Tageswanderung durch die Messaraebene, entlang gelbblühender Flachsfelder, waren sie schließlich am Spätnachmittag an ihrem Ziel angekommen. Der alte Schäfer, dessen Herde er zur Großen Zählung führen sollte, bewohnte keine der Hirtenhütten, wie sie in den Weißen Bergen üblich waren. Am Rand des Dorfes, das nur aus einer Handvoll Häuser mit tiefgezogenen Dächern bestand, lebte er in einem baufälligen Steinhaus.
    Gregeri hatte sie schon erwartet. In seiner Stube empfing er sie mit Fladen aus Kichererbsenmehl, Linsengemüse und einem Krug schaumiger Ziegenmilch. Bevor es Nacht wurde, führte er sie zu seinem Pferch. Scheu, dichtgedrängt im blauen Abendlicht die Schafe, neugierig die Ziegen; zwei der Jungtiere legte er Asterios

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