Palast der blauen Delphine
die Brust gebunden. Dort hatte der Fischer, dessen Schweigen sie mit Edelsteinen erkauft hatte, mit seinem Boot auf sie gewartet. Sie dachte an die Überfahrt, während derer es ihr nicht gelang, das schreiende Kind mit der honiggesüßten Ziegenmilch aus dem durchlöcherten Horn zu beruhigen! Und endlich die Geborgenheit ihres Hauses, wo sie zum erstenmal seine Windeln gewechselt und das Mondmal an seiner Hüfte geküßt hatte.
Ja, ich habe immer gewußt, daß mir der Sohn der Königin nur für einige Jahre geschenkt sein würde! Sechzehn Sommer konnte ich seine Mutter sein. In dieser Zeit habe ich ihn eins mit der Natur werden lassen, ihn den Umgang mit den Heilkräften gelehrt. Seinen jungen, hungrigen Geist habe ich mit den geheimen Überlieferungen gespeist. Habe ich ihm mehr offenbart, als es Männern eigentlich zukommt? Aber er besitzt die Gabe. Er ist der Auserwählte! Es war richtig, ihm das Wissen der Weisen Frauen zu offenbaren, damit der Junge in unserem Sinne seiner großen Aufgabe gerecht werden kann.
Der Junge? Er ist längst kein Kind mehr, verbesserte sie sich selbst. Flaum bedeckt sein Gesicht an Kinn und Wangen, seine Stimme klingt tief. Und er schaut gern den Mädchen nach.
Ihr Herz zog sich schmerzlich zusammen. Große Mutter, was wird geschehen, wenn er der Frau gegenübersteht, die ihn geboren hat? Und was wird aus mir?
Mit einem Mal spürte Merope, wie erschöpft sie war. Sie mußte versuchen, noch ein wenig Schlaf zu bekommen, bevor sie erneut aufbrechen würden. Steif erhob sie sich.
Nach rituellem Brauch streifte sie den Stein ein letztes Mal mit ihrer linken Hand. Dann begoß sie ihn, zuerst mit Wein, anschließend mit Öl. Sorgfältig verschloß sie die Tonkrüge und verwahrte sie wieder in ihrem Beutel. Einen Segensspruch murmelnd, schnitt sie mit dem glattgescheuerten Obsidianmesser die zartgrünen Blätter der umstehenden Disteln ab und packte sie zu den Krügen. Mit einem letzten Blick umfaßte sie den Hain, und nickte. Ja, die Zeremonie war vollendet. Das Licht des Frühlings konnte auf die Insel zurückkehren.
Sie ließ den Opferplatz hinter sich und wandte sich dem Weg zu, der sie zurück zu dem Jungen führte. Ein schwacher rötlicher Schein kündete vom Nahen des Tages, und sie beschleunigte trotz ihrer Müdigkeit den Schritt. Ob Astro schon wach war?
Merope fand ihn schlafend. Liebevoll strich sie sein braunes Haar zurück. Der Bastard der Königin lächelte im Schlaf.
Eine Nacht, ein Tag, eine Nacht. Am Nachmittag erreichten sie endlich das Gipfelplateau. Ein schwieriger Weg lag hinter ihnen, ein strenger, oftmals gefährlicher Marsch auf steilen Pfaden und über Geröllfelder; eine unruhige Nacht, in der sie seine wachsende Anspannung gespürt hatte. Beide hatten sie während dieser Zeit nichts gegessen. Immer wieder hatten sie das Tempo drosseln müssen, um Rast zu machen und ihren Durst aus Quellen zu stillen.
Merope sah die Zeichen von Hunger und Anstrengung in seinem geröteten Gesicht. Sie hörte seine stummen Fragen und fühlte ihren eigenen Magen rumoren wie ein hungriges Tier. Einen Lidschlag nur hatte sie die Augen geschlossen, um das Verlangen nach Nahrung, die Sehnsucht nach Ruhe aus ihrem Geist zu bannen, als sein lauter Schrei sie aufschreckte. Mit schmerzverzerrtem Gesicht hielt er sich den Oberarm, auf dem sich ein flächiger Stich abzeichnete, der schnell anschwoll.
»Eine Biene hat mich gestochen!«
Augenblicklich war sie bei ihm und saugte das Bienengift aus. Kreidebleich hielt er still, während sie mehrmals kräftig ausspie.
Der Schmerz hatte die nur mühsam aufrechterhaltene Mauer seiner Beherrschung zum Einsturz gebracht. Er hatte Angst! Das las sie in seinen Augen, das bewies sein säuerlicher Schweiß. Angst vor dem Unbekannten. Angst vor dem Wissen, das er wiederfinden sollte. Das Ende der Kindheit, dachte sie. So plötzlich. So unwiederbringlich.
Sie hörte, wie er scharf die Luft durch die Zähne zog. »Ist es schon besser?« fragte sie liebevoll.
Er bemühte sich, tapfer zu nicken, und sie nahm wahr, wie froh er über diesen offensichtlichen körperlichen Schmerz war.
Das richtige Mittel gegen Bienenstiche war rohe Zwiebel. Wo sollte sie die hier finden? Da fiel ihr Blick auf ein Büschel Löwenzahn. Sie zog es heraus, ritzte mit dem Nagel den Stiel und drückte den milchigen Saft auf dem Stich aus.
»Es wird gleich vorbei sein. Wenn du später noch Schmerzen hast, machst du es so, wie ich dir eben gezeigt habe. Steck dir noch
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