Palast der blauen Delphine
gefährden.
Schweren Herzens verläßt sie den Palast, begleitet von ihrer Amme. Sie wenden sich erst nach Westen, schließlich nach Süden. Die Angst vor den Häschern sitzt ihnen im Nacken.
Sie sind noch nicht an ihrem Ziel angelangt, als die Wehen einsetzen. Die Fruchtblase platzt, und sie durchleidet die Strapazen der Geburt an einem kleinen Ort im Süden. Als sie ihr sagen, das Kind sei tot, bricht sie in nicht enden wollendes Weinen aus.
Eine Frau bindet sich das Neugeborene vor die Brust und trägt es im Dunkel der Nacht fort, um es in Sicherheit zu bringen. In der Windel steckt ein Ring mit zwei tanzenden Delphinen. Beim Lösen des Tuchs erkennt sie das geweissagte Mal an seiner Hüfte, das heilige Mondzeichen: die Spitzen des Doppelhorns, die sich dunkel von dem helleren Fleisch abzeichnen. Sie sieht auf und er erkennt ihr Gesicht.
Merope!
Wo war er? Wer war er?
Quälender Durst, seine Kehle war wie verdörrt. Seine Hand tastete unsicher nach dem Krug. Er trank so gierig, daß ihm Wasser über Gesicht und Hals rann. Dann schob er das kurze Gewand zur Seite und berührte das Mal an seiner Hüfte.
Die Spitzen des Doppelhorns. Die Mondbarke.
Sein Schrei gellte von den tropfenden Wänden der alten Höhle.
Allmählich verblaßten die Bilder und lösten sich auf. Er spürte wieder den kühlen Steinboden, auf dem er lag, und streckte sich mit schmerzenden Gliedern.
Erschöpft fühlte er sich, wie nach einer langen Wanderung, und hellwach zugleich. Sein Kiefer war taub und spannte. Er hatte das dringende Bedürfnis zu kauen.
Neben sich fand er den Beutel mit den getrockneten Kräutern, die er langsam mit den Zähnen zermahlte. Blättriger Staub drang in die feinen Ritzen seiner Zunge und schmeckte leicht säuerlich. Er trank einen Schluck Wasser, wickelte sich fester in seine Decke und streckte sich aus.
Ohne Widerstände verließ er seinen Körper. Vorsichtig zunächst, ängstlich, indem er sich immer wieder versicherte, daß die pulsierende Verbindung, die im Dunklen leuchtete, noch bestand. Freier schließlich, fast ungestüm.
Er stieg auf und sah seine Gestalt unten liegen, eingehüllt in seine Decke. Er selbst schien durch den vorderen Höhlenraum zu schweben, dann weiter, durch schmale, dunkle Schläuche. Kein Ausgang war in Sicht, kein Licht, nur das Ziel, das er in sich spürte.
Und dann war Sie neben ihm, die Göttin, von der Merope stets voll tiefer Ehrfurcht gesprochen hatte. Eine schlanke Frauengestalt in Rot, deren Züge er nicht richtig erkennen konnte. Er roch ihren Duft, er hörte ihre Stimme, er hatte sie schon tausendmal gesehen. Die Gesichter aller Frauen, die ihm je begegnet waren, schienen sich in ihrem zu vermischen. Ihre Augen aber konnte er klar erkennen. Wissend und unergründlich schauten sie ihn an und drangen bis zum tiefsten Grund seines Selbst.
Schlagartig wußte er, daß er sah. Seine Visionen waren keine wirren Träume, sondern Botschaften, die Sie ihm sandte. Er besaß die Gabe des Zweiten Gesichts.
Eine Welle von Traurigkeit brandete über ihn; er ahnte, daß Ihre Gabe sehr schmerzvoll sein konnte. Daß er nicht nur sehen würde, was in der Vergangenheit geschehen war, sondern auch, was noch in weiter Zukunft lag.
Seine Kopfhaut begann zu prickeln, und er spürte, wie seine Nackenmuskeln sich zusammenzogen.
Er kämpft im dunklen Bauch der Erde. Er trägt eine schwere Ledermaske und weicht vor dem kurzen Schwert eines anderen zurück. Er ist verletzt. Blut tropft von seinem linken Arm. Klirrend fällt sein Schild zu Boden. Nichts schützt ihn mehr vor den harten, wütenden Hieben seines Gegners. Schmale Augen wie helle Gischt sind über ihm und funkeln ihn haßerfüllt an.
Da weiß er, daß sein Tod nahe ist. Er wird sterben. Die Zeit des Stiers geht unaufhaltsam zu Ende …
Du darfst nicht aufgeben – kämpfe! Du bist Asterios, der Sternengleiche, Sohn der Königin und des Weißen Stiers aus dem Meer. Du bist der Auserwählte, der als einziger Kreta vor dem Untergang retten kann. Dein Kommen hat das Orakel prophezeiht. Du wirst die Herde führen. Du sollst der Großen Mutter dienen.
Du bist Asterios …
Widerwillig nur kehrte er in seinen Körper zurück. Er lag auf dem feuchten Höhlenboden wie hingeschmettert, mit zuckenden Gliedern, Schaum vor dem Mund.
Die Fackel war längst erloschen, in dem diffusen Dämmerlicht konnte er nur wenig sehen. Aber er lebte; er bewegte eine Hand, einen Fuß, weit weg, so als ob sie nicht zu ihm gehörten.
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