Palast der Stuerme
weiterhin das Schlimmste von mir denken zu lassen. Du hattest dir deine Meinung ja ohnehin schon gebildet …“
„Und du hieltest es nicht für wichtig, sie zu ändern?“
Warum klang er plötzlich so müde? Sie war ehrlich genug, um wenigstens eine kleine Wahrheit zuzugeben. „Nein, das nicht. Ich hielt es nur für … sicherer.“
Er sah zu ihr hin, und sie zwang sich, seinem Blick standzuhalten. „Sicherer also. Aber das war es doch nicht, oder, Claire? Glaubst du wirklich, wenn ich das gewusst hätte, dann hätte ich …“
„Mit mir geschlafen?“, beendete sie die Frage mit einem zittrigen kleinen Lächeln.
„Das auch, unter anderem. Aber was geschehen ist, ist geschehen, und jetzt will ich endlich die Wahrheit erfahren. Die ganze Wahrheit, Claire.“
Erst holte Claire tief Luft, dann erzählte sie Raoul mit leiser Stimme die Geschichte.
„Also war das Geld für Teddys Schulgeld?“
Claire senkte den Kopf. „Ja, ich hätte Saud damals auch so geholfen, an eine Bezahlung habe ich nie gedacht. Aber dann warst du so verächtlich und kalt, und seit Monaten machte ich mir schon Gedanken, wie ich für das Schulgeld aufkommen sollte. Nach dem Tod unserer Eltern ist die Schule für Teddy zu einem Zuhause geworden. Ich will ihm alles bieten, was er gehabt hätte, wäre unser Vater nicht ums Leben gekommen.“
„Und was ist mit dir, Claire?“, fragte Raoul rau, als sie geendet hatte. „Gab es denn niemanden, der dir die Last von den Schultern hätte nehmen können? Wie alt warst du damals? Siebzehn, achtzehn?“
„Achtzehn.“ Sie schluckte, konnte nicht glauben, dass sie wirklich Zärtlichkeit in seiner Stimme hörte. „Ich hatte gerade mein Studium begonnen, aber natürlich konnte ich nicht mehr weiter zur Universität gehen. Meine Patentante half, wo sie konnte, aber ihr zweiter Ehemann hat selbst eine Familie … Oft hat sie mir etwas zugesteckt … wie diesen Aufenthalt in London zum Beispiel.“
„Dumme, selbstlose Claire“, murmelte Raoul. „So bereitwillig versagst du dir alles, nur um anderen zu helfen. Ich werde alles arrangieren, damit Teddy herkommen kann. Und du brauchst dir keine Sorgen mehr um sein Schuldgeld zu machen. Ab jetzt obliegt dein Bruder Teddy meiner Verantwortung.“
„Aber … unsere Ehe ist doch nur ein zeitlich begrenztes Arrangement“, erinnerte sie ihn atemlos. „Und Teddy kann nicht herkommen. Ich musste ihm doch eine Erklärung geben, ich konnte doch nicht einfach so verschwinden. Deshalb bin ich ja damals zur Schule gefahren, um ihm zu sagen, dass wir heiraten, aber …“ Sie fuhr sich mit der Zungenspitze über die trockenen Lippen. Plötzlich hatte sie Angst, Raoul die Lüge zu gestehen, die sie Teddy erzählt hatte.
„Aber du hast ihm nicht gesagt, dass du einen Mann von gemischter Herkunft heiratest? Ist es das, was dich sorgt? Dass er schockiert sein wird, wenn er mich sieht?“
„Nein!“, widersprach sie sofort. „Natürlich nicht. Teddy würde nicht einen Gedanken an so etwas verschwenden. Aber ich habe ihm gesagt, dass es eine Liebesheirat war. Ich wollte ihn nicht unnötig beunruhigen. Und an seiner Schule sind auch einige Jungen aus arabischen Familien, vielleicht hätte Teddy sich verplappert, und das hätte ein Risiko für Saud … Raoul, was ist denn?“ Sie sah tiefrote Farbe in seine Wangen kriechen. „Bist du wütend?“
„Nur auf mich selbst.“ Seine Stimme klang gepresst vor Gram. „Ich habe dich nach den Standards bewertet, an die ich gewöhnt bin, und es ist beschämend, zugeben zu müssen, wie niedrig diese sind, verglichen mit deinen. Natürlich kommt Teddy hierher. Er vermisst dich. Und du hast seinen Brief nicht beantwortet.“
„Ich hab’s vergessen“, gestand sie schuldbewusst. Es wäre wunderbar, ihren Bruder zu sehen – und ebenso unmöglich. „Ich würde ihn schrecklich gern sehen, aber … es geht nicht, Raoul. Teddy ist nicht so naiv, dass er nicht … Er wird sofort erkennen, dass wir …“
„Dass wir nicht verliebt ineinander sind?“, vollendete Raoul den Satz für sie. „Ich denke, du machst dir zu viele Sorgen. Kinder nehmen die Dinge oft als gegeben hin. Wenn Teddy sieht, dass wir uns ein Schlafzimmer teilen, bezweifle ich, dass er auch nur einen weiteren Gedanken daran verschwendet.“
„Aber wir schlafen doch nicht in einem Zimmer“, wandte sie ein.
„Für die Dauer seines Besuches werden wir es tun. Er kann mein Zimmer haben, und ich schlafe bei dir. Nein, keine Einwände mehr, bitte,
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