Palast der Stürme
engen Straße zurückgeworfen wurde. Roxane trat aus ihrem Versteck und richtete sich zu ihrer vollen Größe auf. Sie streckte beide Arme aus und hielt die Pistole mit eisernem Griff in beiden Händen.
»Du bist ein toter Mann«, sagte sie leise.
Sie wusste nicht, ob der Sowar ihre Worte gehört oder verstanden hatte, aber irgendetwas musste er bemerkt haben, denn er hielt inne und kam dann aus dem Sonnenlicht zurück in die schattige Straße. Als er sie sah, fuhr er zusammen und griff dann grinsend nach seinem Schwert. Dann fiel sein Blick auf ihre Waffe, und sein Grinsen verschwand. Seine Finger schwebten leicht zuckend über dem Griff seines Schwerts. Seine Augen wirkten im Schatten komplett schwarz, denn selbst das Weiße darin war nach einigen langen, schlaflosen Nächten getrübt und blutunterlaufen.
Einige Atemzüge lang hielt Roxane dem Blick des Soldaten unbeirrbar stand. Ein heißer Windstoß fegte von hinten durch die Gasse, presste ihr den zerrissenen Rock an die Beine und wirbelte Abfall in einer Wolke auf, die auf den Sowar zuflog und an ihm vorbei in das grelle Licht dahinter wirbelte. Er blieb unbeweglich in seinem blaugrauen Rock stehen und starrte zurück. Seinem braunen Gesicht war deutlich anzusehen, dass er nicht sie wahrnahm, möglicherweise nicht einmal die Pistole in ihrer Hand, sondern nur die Gefahr seines bevorstehenden Tods.
Sie erschoss ihn nicht, sondern ließ ihn wortlos ziehen; sie erlaubte ihm, aus der Gasse zu stolpern, um seinen längst verschwundenen Kameraden zu folgen. Als sie den anderen Mann, der versucht hatte, eine Frau auf der Straße zu töten, erschossen hatte, hatte sie einen Grund dafür gehabt – sie hatte versucht, das Leben eines anderen zu retten. Wenn sie diesen Mann getötet hätte, wäre es ein Akt der Vergeltung gewesen, eine kalte, skrupellose, unverzeihliche Tat. Sie hätte nicht weiterleben können, wenn sie vor Zorn dem Mann, von dem sie nur vermuten konnte, dass er ihr ihren Geliebten genommen hatte, eine tödliche Kugel ins Herz gejagt hätte, denn sie hätte gewusst, dass sie es nur aus Rache getan hatte.
Sie hatte ihn gehen lassen, und nun starrte sie auf die Stelle im grellen Sonnenlicht, wo der Mann gestanden hatte. Plötzlich verflog ihr eiskalter Zorn. Er verließ sie und versickerte wie Wasser in der Erde. Roxane fühlte sich leer, ausgelaugt, zittrig und schrecklich allein.
Vorsichtig schlich sie vorwärts und spähte aus der Gasse in die Richtung, in der die Sowars verschwunden waren. Die Straße war leer. Sie wollte nicht an Collier denken, nicht daran, wie er vielleicht ums Leben gekommen war und gelitten hatte; auch nicht an die Möglichkeit, dass er noch am Leben war, an irgendeinem Ort, den sie nicht kannte und wo sie ihm nicht helfen konnte.
Aber er musste noch am Leben sein. Rasch sprach sie wieder ein leises Gebet. Er musste einfach noch leben. Sonst wäre es ihr unmöglich, das alles zu ertragen.
Als sie ein Geräusch hinter sich hörte, drehte sie den Kopf. Adain stand nicht weit von ihr entfernt. Sein schneeweißes Fell war mit Staub und Schlamm bedeckt und an seinen Vorderbeinen schien Blut zu kleben. Die Muskeln an Hinterhand und Flanke zitterten. Er verdrehte die Augen, sodass das Weiße zu sehen war, und seine dichten Wimpern, die sie einmal an eine Frau erinnert hatten, verliehen ihm einen Ausdruck der Fassungslosigkeit. Ohne über die möglichen Konsequenzen nachzudenken, trat Roxane auf das Kopfsteinpflaster und ging langsam auf den weißen Hengst zu.
Sie sprach mit sanfter Stimme auf ihn ein und streckte ihm ihre Hand entgegen. Dann erinnerte sie sich an das Obst in ihrer Tasche, zog eine der Früchte heraus und bot sie ihm an. Adain spitzte die Ohren, als er seinen Namen hörte und die süße Frucht sah, und kam zögernd auf sie zu. Roxane blieb stehen, um das Tier nicht zu verstören, und wartete mit ausgestreckter Hand. Als das Pferd nahe genug herangekommen war, griff sie ohne Hast nach dem Halfter und wiederholte immer wieder leise und beruhigend seinen Namen. Die vertrauten Klänge schienen ihm zu gefallen. Roxane duckte sich, um dem aus seinem Maul tropfenden Saft der Frucht auszuweichen, und ging unter seinem Hals auf die andere Seite, um den Steigbügel festzuzurren und die Zügel über den Kopf des Tiers zu ziehen. Mit einem tiefen Atemzug raffte sie ihre Röcke, setzte ihren Fuß in den Steigbügel und schwang sich auf wenig damenhafte Art in den Sattel. Adain schnaubte nur protestierend und schüttelte
Weitere Kostenlose Bücher