Palast der Stürme
sie gekommen war, schlich sich aber hinter dem Laden in eine lange, schmale Straße. Einen Augenblick lang blieb sie stehen und versuchte, ihre Angst zu unterdrücken, um wieder klar denken zu können. Dann ging sie in die violetten Schatten geduckt weiter. Nach einer Weile blieb sie wieder stehen, griff unter ihren Rock und zog den lästigen Reif heraus. Sie hob eine Glasscherbe vom Boden auf und schnitt damit einen langen Streifen von ihrem Rocksaum ab, der sonst auf der Erde geschleift hätte. Den Stofffetzen steckte sie zu den Pistolen in ihre Tasche, falls sie ihn noch brauchen würde. Bitte lieber Gott, betete sie, während sie das Band um einen Zylinder wickelte. Lass mich das Richtige tun. Falls Sera sich in der Stadt aufhält, darf ich hier nicht weggehen, bevor ich nicht alles getan habe, um sie hier herauszubringen. Ich kann nicht darauf warten, dass es ein anderer für mich tut. Dafür bleibt keine Zeit.
Der Ladenbesitzer hatte von den Meuterern aus Meerut gesprochen. Das konnte nur bedeuten, dass es dort einen Aufstand gegeben hatte. Wo war Collier? Rasch schickte sie ein weiteres Stoßgebet zum Himmel und bat, dass er sich nicht in Gefahr befand und nicht zu oft an sie dachte, denn er musste vorsichtig sein und brauchte einen klaren Kopf. Sie konnte auf sich selbst aufpassen. Das hatte er doch immer gesagt, oder? Und das würde sie auch tun.
Sobald sie Sera gefunden hatte – und den Gedanken, dass ihr das nicht gelang, ließ sie einfach nicht zu –, würde sie sich im Schutz der Dunkelheit aus der Stadt und nach Hause schleichen, um sich dort zu vergewissern, dass alle in Sicherheit waren.
Der Gedanke, dass das nicht ihre Aufgabe und Pflicht war, kam ihr nicht in den Sinn. Sie dachte auch nicht daran, dass einige Männer in besseren Zeiten vor ihrer beinahe männlichen Art zu denken zurückgeschreckt wären. Sie spürte nur in ihrem Herzen, dass es richtig war, einen Überlebensinstinkt zu haben und diejenigen schützen zu wollen, die ihr wichtig waren. Später sollte sie erfahren, dass sie damit nicht allein auf der Welt war. Im Augenblick wusste sie jedoch nichts von den anderen, nichts von der Frau des Bankbeamten, die gemeinsam mit ihrem Mann in diesem Augenblick mit einem Jagdmesser die Rebellen von ihrer Familie fernhielt. Sie glaubte, sich ohne Hilfe in einer von Verrückten besetzten Stadt zu befinden, in einer Welt, die aus den Fugen geraten war, aber diese Erkenntnis beunruhigte sie nicht übermäßig. So wie bei hohem Fieber, das manchmal zu klarem Verstand verhalf, fühlte sie sich außerordentlich gefasst und ausgeglichen. Ein kriegserfahrener Soldat hätte diese Ruhe erkannt. Collier hätte sie sofort an ihren Augen gesehen. Für Roxane war das jedoch etwas Merkwürdiges und Neues, und sie bewegte sich vertrauensvoll in diesem Rahmen wie in einer gepanzerten Rüstung.
Roxane hatte sich Zeit genommen, um beide Waffen zu laden, die sie nun an ihrer Seite trug. In der vergangenen Stunde hatte sie Szenen beobachtet, die sie nie wieder vergessen würde. Sie hatte eine ihrer Pistolen auf den Rücken eines Mannes abgefeuert, der eine Frau aus ihrem Versteck gezerrt hatte und sie töten wollte. Zu spät – sie hatte sie nicht retten können, denn ein anderer Mann stürzte sich auf die Frau und stieß ihr blitzschnell sein blutverschmiertes Messer in den Leib. Das Chaos war so groß, das niemand in die Richtung schaute, aus der der Schuss gekommen war, der den Mann getötet hatte; das bestialische Treiben ging unvermindert weiter.
Nein, das waren keine wilden Tiere, wie Roxane dachte, denn wilde Tiere töteten weder so zügellos wie Menschen noch so systematisch inmitten dieses Wahnsinns. Nachdem Roxane den Sepoy erschossen hatte, ging sie in die Knie und übergab sich. Dann stand sie wieder auf und dachte nicht mehr daran.
Vorsichtig ging sie an der weiten baumbestandenen Allee vorbei, hinter der sich der Glockenturm der Kirche St. James erhob, wo sie und Collier geheiratet hatten. Die Glocken läuteten laut, aber sie wusste nicht, ob zur Warnung oder ob der Mob sich ein Possenspiel erlaubt hatte. Und dann hörte sie ein entsetzliches Krachen, als die Glocken in dem langen Kirchturm herunterstürzten, von den Mauern abprallten und mit solcher Gewalt in der Kirche darunter landeten, dass die Erde unter ihren Füßen bebte. Offensichtlich hatte jemand die Seile durchtrennt.
Die Sonne brannte unbarmherzig auf die Stadt nieder und spiegelte sich in den Zwiebeltürmen und den roten Mauern des
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