Palast der Stürme
Oberfläche das Geflecht seiner Adern, sein Alter und seinen Schmerz sehen konnte.
»Ich kann nicht glauben … ich hätte nicht … ich hätte nicht gedacht …«
Max sprach keuchend; seine Stimme ähnelte in keiner Weise mehr seinem früheren Kommandoton, und Collier musste sich über ihn beugen, um ihn zu verstehen.
»Colonel, möchten Sie einen Brandy gegen die Schmerzen?«, fragte Collier. »Oder etwas Stärkeres? Verdammt«, murmelte er und drehte sich zu dem Gärtner um. »Wo ist der Arzt?«
Govind sah ihn aus feuchten Augen und schüttelte wortlos den Kopf.
Collier atmete tief aus und ließ für einen Moment den Kopf in seine Hände sinken.
»Colonel«, sagte er dann leise. »Ist Opium im Haus?«
Max drehte sich unter den befleckten Laken um und stöhnte.
»Das … das will ich nicht, Harrison.«
Collier nickte. Vor dem abgedichteten Fenster krachten Holzbalken in einiger Entfernung auf die Erde, und die Sepoys sprachen ihm Flüsterton miteinander. Im Haus war es ganz still, bis auf den keuchenden Atem des Colonels. Collier lauschte auf andere Geräusche außer dem schrecklichen Beweis, dass hier ein Leben ausgehaucht wurde – auf Roxanes Schritte auf dem Boden, die aus einem anderen Teil des Hauses kam, wo sie etwas gesucht hatte, um das Leiden ihres Vaters zu verringern.
Nach einigen Minuten hob Collier den Kopf. Der Schweiß auf seiner Haut war mit einem Mal kalt, und er hatte das Gefühl, als würde Eiswasser durch seine Adern fließen und sich in seinem Bauch sammeln. Ihm war übel und schwindlig, und er hatte mehr Angst, als er während der furchtbaren Ereignisse in den zwei letzten Tagen jemals gehabt hatte.
»Wo ist Roxane?«, fragte er.
Max gab ein Geräusch von sich, das mehr nach Verzweiflung als nach Schmerz klang.
Collier sah wieder Govind an, doch der Gärtner schüttelte erneut stumm den Kopf.
Colliers Hände, die er zwischen seine Knie gelegt hatte, begannen zu zittern. »Wohin ist sie gegangen? Wo ist sie?«
Max seufzte und drehte den Kopf zur Wand, wo das Kerzenlicht einen blassen Schatten in den Raum warf. Collier richtete den Blick auf den Gärtner. Er ballte die Hände so heftig zu Fäusten, dass er sich alle Knochen hätte brechen können, ohne es zu bemerken.
»Sie sucht die Kleine«, erwiderte Govind schließlich.
»Wo?« Colliers Stimme klang rau vor Angst.
Der Gärtner hob die Hände und legte sie aneinander. Dann straffte er die Schultern und sah Collier in die Augen.
»In der Stadt.«
In der Stadt. Die Bedeutung dieser Worte vibrierten in Colliers Gedanken und hallten in seinem Körper wieder.
»Oh mein Gott.«
Augenblicklich sprang er vom Stuhl auf, lief aus dem Haus und schrie verzweifelt ihren Namen. Sein Blut war jetzt kochend heiß und schoss wie flüssiges Eisen durch sein Herz. Der Schmerz und die Angst schienen seine Seele zu zerreißen. Doch als er sich umschaute, saß er immer noch auf dem Stuhl in dem düsteren Raum neben einem Sterbenden – einem Mann, der ohne seine Tochter an seiner Seite aus dem Leben gehen würde. Der Gärtner, ein treuer und loyaler Diener, hatte sich an die Tür gestellt, so als habe er Colliers Absicht, überstürzt zu fliehen, in seinen Augen gesehen.
Wortlos nahm Collier Max Sheffields Hand in seine, hielt sie sanft – Roxane zuliebe – und wartete auf das Ende.
20
Adain war weg. Grausame Hände hatten ihn ihr entrissen. Sie war aus dem Sattel gerissen worden und auf der Straße gelandet, dann hatte sie jemand an den Haaren gepackt und unsanft hochgezogen. Roxane hatte sich gewehrt und um sich getreten, aber das hatte ihre Fänger nur amüsiert. Ihr Haar hatte sich bei den Misshandlungen gelöst und fiel ihr über die Schultern. Ihre langen Locken waren ein geeignetes Ziel; grapschende Finger rissen ihr dicke Strähnen aus. Hinter sich hörte sie den Hengst einen unheimlichen Laut ausstoßen, der von den Mauern des Innenhofs zurückgeworfen wurde – es klang wie das Weinen einer Frau. Sie konnte sich nicht umdrehen und wusste nicht, was aus dem Pferd geworden war.
Roxane stolperte und riss sich dabei den Rock auf, wurde aber sofort von einer Faust in ihrem Haar wieder hochgerissen. Die Bewegung war nicht ganz so grob wie vorher, aber Roxane war nicht so dumm zu glauben, dass das ein Zeichen von Freundlichkeit gewesen war – es hatte sich lediglich um ein Versehen gehandelt. Sie befand sich unter vielen Gefangenen, die von den Fängern durch den Hof getrieben wurden. Einige weinten vor Furcht, als sie zu einer in
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