Palast der Stürme
und umklammerten mit den Händen die Dinge, die sie in diesem Moment am meisten beruhigten: ihre verstöpselten Flaschen mit Riechsalz. Neben ihnen trotteten viele treue Diener. Sie trugen eine Ansammlung persönlicher Gegenstände oder Kinder, die noch nicht auf der heißen, staubbedeckten Erde laufen konnten.
»Ist Roxane … ist Mrs …« Er hielt inne und rang nach Luft. »Ist Miss Sheffield bei Ihnen?«
Die Frau sah ihn mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck an und wandte den Blick dann wieder den rauchenden Häusern zu. »Ich … ich habe sie nicht gesehen«, antwortete sie.
»Nein?«
»Nein.«
Collier dankte ihr und lenkte sein Pferd auf die Straße, um Roxane unter den Frauen zu suchen, die auf das Steingebäude zugingen. Er fragte nach ihr, bis kein Laut mehr aus seiner ausgedörrten Kehle drang. Erst dann fiel ihm ein, dass er seit dem vergangenen Nachmittag keinen Tropfen mehr getrunken hatte. Einer der Zivilisten erkannte seine Not und reichte ihm eine Reiseflasche. Ohne sich Gedanken über den Inhalt zu machen, trank Collier einen kräftigen Schluck, bevor er den Mund voll Whiskey hatte und beinahe daran erstickt wäre. Der Alkohol befeuchtete zumindest seine Zunge, und als er die Flasche zurückgab, fragte er erneut nach Roxane. Der Mann zuckte die Schultern und meinte, sie sei sicher bereits im Turm.
Collier betrat das Garnisonsgebäude, einen zylinderförmigen Turm mit einem kleineren Aufbau an der Spitze. Er kletterte eine Wendeltreppe hinauf, die zu einem kleinen Raum mit nur etwas mehr als fünf Meter Durchmesser führte. Hier drängten sich weitere Frauen mit ihren Kindern und Bediensteten. Einige kauerten auf dem relativ kühlen Boden, andere pressten sich gegen die gewölbten Wände. Roxane war nicht unter ihnen, und sie war auch von niemandem im Verlauf des Tages gesehen worden. Ihr Vater sei verwundet worden und sei zu seinem Haus zurückgekehrt, wo sich eine Handvoll loyaler Sepoys um ihn kümmerte, meldete sich schließlich jemand zu Wort. Möglicherweise sei sie bei ihm. Die Verletzung ihres Vaters sei wohl tödlich …
Collier drehte sich wortlos um und stolperte die Stufen wieder hinunter. Sein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Er stieg wieder in den Sattel und ritt so schnell das verausgabte Tier ihn tragen konnte die zwei Meilen über die Brücke zum Haus des Offiziers, angetrieben von einer albtraumhaften Vorstellung. Bereits aus einiger Ferne sah er, dass die meisten Häuser in dem Viertel in Flammen standen. Dichte Rauchwolken waberten in den Himmel, und der Geruch einer Feuersbrunst drang ihm in die Nase und trieb ihm Tränen in die Augen. Gärten waren zertrampelt, Zäune niedergerissen und Dächer von den Flammen verzehrt. In den Höfen lagen zerbrochene Möbelstücke, zerrissene Kleider und geplünderte Schubladen, in denen sich Silberbesteck und andere wertvolle Gegenstände befunden hatten. Max Sheffields Haus war jedoch unversehrt. Ein halbes Dutzend Sepoys stand mit geladenen Enfield-Gewehren Wache. Collier rannte los, ohne sich darum zu kümmern, dass seine Rippen schmerzhaft an dem Verband wetzten. Er stieß die Tür so heftig auf, dass der weiße Putz von der Wand bröckelte.
»Roxane!«
Seine Stimme klang merkwürdig hohl und hallte, als wäre er von Marmorwänden umgeben. In diesem Moment hätte er schwören können, dass sich niemand im Haus befand, doch dann hörte er eine leise, würdevolle Stimme. »Sahib.« Der Gärtner Govind bedeutete ihm näher zu kommen.
»Der Colonel ist hier.« Er hob einen langen braunen, von Stecklingen grün verfärbten Finger und legte ihn sich auf die Lippen, um ihn um Ruhe zu bitten. Collier betrat leise den Salon.
In dem Raum hing ein strenger Geruch, und Collier wusste sofort, wo der Colonel verwundet worden war und dass diese Wunde tatsächlich tödlich war. Govind oder vielleicht Roxane hatten zwei Kerzen angezündet und ein wenig Öl – Patschuli, wie Collier dachte – im Zimmer verspritzt, um den Gestank erträglicher zu machen. Es nützte jedoch nichts. Ohne ein Wort durchquerte Collier den Raum und setzte sich auf den Stuhl, auf dem der Gärtner gesessen hatte.
»Colonel Sheffield«, sagte er so leise, wie man es tat, wenn der Tod bereits in der Luft schwebte. »Kann ich etwas für Sie tun?«
Der Mann auf dem Sofa drehte den Kopf in Colliers Richtung, ohne die Augen zu öffnen. Sein Teint war blass, teigig, dünn und durchsichtig und hob sich leicht von den Knochen seines Gesichts, sodass man durch die
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